Homicide
als sei es peinlicher Optimismus, die Existenz von Augenzeugen in Erwägung zu ziehen.
»Eine Frau, die in ein Haus auf der anderen Straßenseite gegangen ist. Wurde jedenfalls von den ersten Officers vor Ort erzählt. Sie soll draußen gewesen sein, als die Schüsse fielen.«
»Hat sie es gesehen?«
»Angeblich hat sie Leuten erzählt, es waren drei schwarze Typen in dunklen Klamotten, die nach den Schüssen Richtung Norden weggelaufen sind.«
Das ist nicht viel, und Pellegrini kann seinem Sergeant am Gesicht ablesen, was er denkt. Drei Yos in dunklen Klamotten, das trifft auf die halbe Stadt zu. Landsman nickt, und Pellegrini geht auf die andere Seite der Gold Street. Vorsichtig umrundet er die Eisflächen, die einen Großteil der Kreuzung bedecken. Es ist inzwischen früher Morgen, halb drei, und die Temperatur um einiges unter den Gefrierpunkt gesunken. Ein schneidender Wind packt den Detective in der Straßenmitte und fährt durch seinen Mantel. Auf der anderen Seite der Etting haben sich Anwohner zusammengeschart, um das Ereignis zu würdigen, jüngere Männer und Teenager, die die unerwartete Zerstreuung auf sich wirken lassen. Sie verrenken die Hälse, um einen Blick auf das Gesichtdes Toten zu erhaschen. Einige reißen Witze, man flüstert sich Geschichten zu, doch selbst die Jüngsten sind schon darin geübt, seinem Blick auszuweichen und bei der ersten Frage eines Cops in Schweigen zu versinken. Ein anderes Verhalten wäre sinnlos, denn in einer halben Stunde wird der Tote auf dem Tisch des Rechtsmediziners im Schlachthaus in der Penn Street aufgebahrt sein, die Männer vom Western District werden im 7-Eleven in der Monroe Street ihren Kaffee umrühren, und die Dealer werden auf der gottverlassenen Kreuzung Gold und Etting wieder ihre Kapseln mit blauem Verschluss verkaufen. Nichts, was man jetzt sagen könnte, wird daran etwas ändern.
Als sie Pellegrini über die Straße auf sich zukommen sehen, starren sie ihn provozierend an, wie es nur die Jungs von der West Side können. Der Sergeant geht zu einer angestrichenen Steintreppe und hämmert in drei kurzen Schlägen an die Holztür. Während er wartet, verfolgt sein Blick einen alten Buick, der auf der Gold Street langsam auf ihn zu und dann an ihm vorbei nach Westen rollt. Als der Wagen die Höhe des Blaulichts erreicht hat, flackern kurz seine Bremslichter auf. Doch dann setzt er seinen Weg fort, ein paar Blocks weiter nach Westen zur Brunt Street, wo sich eine kleine Clique von Dealern schon wieder an den Ecken aufgebaut hat und in respektvollem Abstand zum Tatort Heroin und Kokain feilbietet. Erneut leuchten die Bremslichter auf. Eine einzelne Gestalt löst sich von einer Hauswand und beugt sich zum Fahrerfenster. Geschäft ist Geschäft, der Markt auf der Gold Street macht für niemanden Pause, und ganz bestimmt nicht für den toten Dealer drüben auf der anderen Straßenseite.
Pellegrini klopft ein zweites Mal, dann tritt er näher an die Tür heran und lauscht, ob von drinnen etwas zu hören ist. Von oben kommt ein gedämpftes Geräusch. Der Detective atmet langsam aus, dann klopft er erneut. Im Nachbarhaus steckt ein Mädchen den Kopf aus dem Fenster im Obergeschoss.
»Hallo! Sie da«, ruft Pellegrini. »Ich bin von der Polizei.«
»Ah-ha.«
»Wissen Sie, ob Katherine Thompson hier wohnt?«
»Kann man so sagen.«
»Ist sie um diese Zeit zu Hause?«
»Nehme ich doch an.«
Nach lautem Hämmern wird schließlich im oberen Stockwerk das Licht angeschaltet und ein Fenster mit einem krachenden Ruck nach oben geschoben. Eine fleischige Frau in mittleren Jahren – voll angezogen, stellt der Detective fest – schiebt Kopf und Schultern hinaus und starrt auf Pellegrini herab.
»Scheiße! Wer klopft da mitten in der Nacht?«
»Mrs. Thompson?«
»Ja.«
»Polizei.«
»Poo-lii-zei?«
Herr im Himmel, denkt Pellegrini, was sonst sollte ein Weißer in einem Trenchcoat nach Mitternacht in der Gold Street schon sein? Er zieht seine Marke raus und hält sie in Richtung Fenster.
»Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«
»Nein, können Sie nicht.« Das kommt in einem so langsamen und lauten Singsang, dass es auch bis zur Gruppe auf der anderen Straßenseite vordringt. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Die Leute hier wollen schlafen, und dann kommen Sie mitten in der Nacht und hämmern an meine Tür.«
»Haben Sie schon geschlafen?«
»Geht Sie gar nichts an.«
»Es geht um die Schießerei. Ich muss mit Ihnen reden.«
»Dazu kann ich Ihnen nichts
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