Homicide
Mistkerl es selbst herausgefordert hat, dass sie es eigentlich gar nicht gewollt haben, dass die Waffe versehentlich losgegangen ist, dass sie nur in Notwehr geschossen haben?
Wenn es gut läuft, kannst du am Abend jemanden einsperren. Wenn nicht, nimmst du, was du hast, und steuerst die aussichtsreichste Richtung an, trittst noch ein paar Fakten los und hoffst, dass sie zu irgendwas führen. Kommt nichts dabei heraus, wartest du einige Wochen, was das Labor über die Kugeln oder die Fasern oder das Sperma herausfindet. Falls das zu nichts führt, wartest du, ob das Telefon klingelt. Bleibt es stumm, erlebst du, wie ein kleines Stück von dir stirbt. Dann kehrst du an deinen Schreibtisch zurück und wartest auf den nächsten Anruf der Einsatzleitung, der dich früher oder später zu einer neuen Leiche rausschickt. Denn in einer Stadt mit 240 Morden im Jahr wird es immer eine neue Leiche geben.
Das Fernsehen hat uns das Bild von wilden Verfolgungen und rasanten Autojagden vermittelt, doch die sind ein Mythos. Und wenn es sie gäbe, weiß Gott, dein Cavalier würde nach ein paar Blocks den Geist aufgeben, und du müsstest ein 95er-Formular ausfüllen und deinem Vorgesetzten respektvoll erklären, warum du ein stadteigenes vierzylindriges Wunderwerk der Technik vorzeitig in Schrott verwandelt hast. Es gibt auch keine Faustkämpfe und Schusswechsel: Die glorreichen Tage, in denen man einem prügelnden Ehemann einfach eine reinhaute oder in der Hitze eines Tankstellenraubs die eine oder andere Kugel abfeuerte, waren vorbei, als man dich von der Streife ins Präsidium versetzte. Das Morddezernat wird hinzugerufen, wenn die Leute bereits am Boden liegen, und ein Mordermittler muss sich beim Verlassen des Büros immer wieder daran erinnern, auch wirklich die rechte obere Schreibtischschublade aufzuziehen und seine 38er mitzunehmen. Vor allem aber gibt es nicht diesen Augenblick der vollkommenen Gerechtigkeit, in dem sich ein Detective, ein wissenschaftlicher Zauberer mit unfehlbarer Beobachtungsgabe, über den Blutfleck auf einem Teppichbeugt, das Büschel unverwechselbar rotbraunen Haars eines Weißen aufpflückt, seine Verdächtigen in einem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer zusammenruft und ihnen erklärt, der Fall sei gelöst. Zum einen gibt es in Baltimore kaum noch geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer, zum anderen wird auch der beste Mordermittler zugeben, dass dem Detective in neunzig von hundert Fällen die übermächtige Neigung des Täters zu Stümperei oder zumindest zu massiven Fehlern zu Hilfe kommt.
Meistens hinterlässt der Mörder überlebende Zeugen oder brüstet sich vor anderen mit seiner Tat. Und überraschend oft kann der Täter – vor allem, wenn er mit dem Justizapparat nicht vertraut ist – im Vernehmungsraum durch ein geschickt geführtes Verhör zum Geständnis gebracht werden. In selteneren Fällen passt ein Fingerabdruck auf einem Trinkglas, auf einem Messergriff zu einem Datensatz im Printrak-Computer, doch die meisten Detectives können sich nur an wenige Fälle erinnern, die mithilfe des Labors gelöst wurden. Ein guter Cop kommt an den Tatort, sammelt das vorhandenen Beweismaterial ein, spricht mit den richtigen Leuten und entdeckt mit ein bisschen Glück die krassesten Fehler des Mörders. Und schon allein dazu braucht es eine ganze Menge Talent und Instinkt.
Wenn alles zusammenpasst, bekommt irgendein Pechvogel ein Paar silberner Armreifen und eine Freifahrt in die überfüllten Etagen des Stadtgefängnisses von Baltimore. Hier sitzt er ein, während sein Verfahren um acht, neun Monate verschoben wird, oder so lange es eben dauert, bis deine Zeugen zwei- oder dreimal ihre Adresse geändert haben. Dann bekommst du einen Anruf von einem stellvertretenden Staatsanwalt, dem alles daran gelegen ist, mit einer überdurchschnittlichen Verurteilungsrate zu glänzen, damit er sich eines Tages in einer überdurchschnittlichen Anwaltspraxis zur Ruhe setzen kann. Er erklärt dir, dies sei die am schwächsten untermauerte Mordanklage, die er je das Pech hatte zu vertreten. Sie sei so wackelig, dass er sie kaum als Resultat des Wirkens einer rechtmäßig arbeitenden Grand Jury erkennen könne. Du mögest doch bitte die hirntote Herde zusammentrommeln, die du Zeugen nennst, und sie zu einer Vorabbefragung zu ihm schicken, denn am Montag soll die Sache nun endlich vor Gericht kommen. Es sei denn, er bringt den Verteidiger dazu, auf Totschlag einzugehen,bei dem die Strafe nach fünf Jahren zur
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