Homicide
die Polizeiarbeit selbst. In jedem guten Detective gibt es einen versteckten Mechanismus – einen Kompass, der ihn innerhalb kürzester Zeit von einem toten Opfer zu einem lebenden Verdächtigen führt, ein Gyroskop, das ihm im schwersten Sturm Gleichgewicht gibt.
In Baltimore bearbeitet ein Detective etwa neun, zehn Mordfälle im Jahr als leitender Ermittler und ein weiteres halbes Dutzend als zweiter Mann, obwohl die Richtlinien des FBI nur die Hälfte empfehlen. Er behandelt fünfzig bis sechzig Fälle von gefährlichem Schusswaffengebrauch, Messerstechereien und körperlicher Gewalt. Er untersucht jeden ungeklärten oder zweifelhaften Todesfall, der, gemessen am Alter des Opfers oder seinem Gesundheitszustand, Fragen aufwirft. Überdosis, Schlaganfälle, Selbstmord, Unfälle, Ertrinken, plötzlicher Kindstod, autoerotische Strangulation – mit all dem befasst sich ein Detective, während er die Akten von drei ungeklärten Mordfällen auf dem Schreibtisch liegen hat. Jeder Schusswechsel in Baltimore, an dem Polizisten beteiligt sind, wird vom Morddezernat, nicht von der Innenrevision untersucht; man stellt einen Sergeant und ein Team von Detectives dafür ab, um am nächsten Morgen der Polizeiführung und der Staatsanwaltschaft einen umfassenden Bericht vorzulegen. Außerdem laufen jede gegenüber einem Polizeibeamten, Staatsanwalt oder Amtsträger ausgesprochene Drohung sowie jeder dokumentierte Einschüchterungsversuch von Zeugen der Staatanwaltschaft über das Morddezernat.
Aber das ist noch nicht alles. Da das Morddezernat oft genug bewiesen hat, dass es jede Art von Fällen untersuchen und seine Schritte auch dokumentieren kann, wird es immer wieder zu politisch heiklen Ermittlungen hinzugezogen: Ein Ertrunkener in einem städtischen Schwimmbad, für dessen Tod unter Umständen die Stadt zur Verantwortung gezogen wird, anhaltender Telefonterror beim Stabschef des Bürgermeisters, eine langwierige Untersuchung zu der bizarren Behauptung eines Abgeordneten, er sei von mysteriösen Feinden entführt worden. In Baltimore gilt die Regel: Wenn etwas wie Scheiße aussieht, wie Scheiße riecht und wie Scheiße schmeckt, dann ist das ein Fall fürs Morddezernat. So verlangt es die interne Hackordnung des Präsidiums.
Denn:
Verantwortlich für das Morddezernat mit zwei Schichten von je achtzehn Detectives und Detective Sergeants sind zwei altgediente Lieutenants, die dem Captain der Abteilung Gewaltverbrechen unterstehen. Da sich der Captain gern mit der Pension eines Bürgermeisters zur Ruhe setzen würde, möchte er seinen Namen aus allem heraushalten, was dem für die Kriminalpolizei, die Criminal Investigation Divisionoder kurz CID verantwortlichen Colonel Bauchschmerzen verursachen könnte. Und das nicht nur, weil der Colonel beliebt, intelligent und schwarz ist und gute Chancen hat, in einer Stadt mit einem neuen schwarzen Bürgermeister und einer mehrheitlich schwarzen, der Polizeibehörde misstrauisch oder ablehnend gegenüberstehenden Bevölkerung das Karrieretreppchen nach oben zu fallen – auf den Posten des stellvertretenden Polizeichefs oder sogar noch höher. Man schirmt den Colonel auch deshalb von Ärger ab, weil, was immer ihm Magendrücken bereiten könnte, nur eine kurze Fahrt im Lift braucht, um den Allmächtigen persönlich zu erreichen, den stellvertretenden Polizeichef Ronald J. Mullen, der breit und fett auf dem Polizeipräsidium Baltimores hockt und fünf Minuten, nachdem etwas passiert ist, über alles informiert sein will.
Für die Polizisten auf mittlerer Ebene ist der stellvertretende Polizeichef einfach der Great White Mullen ein Mann, dessen Aufstieg nach einem kurzen Abstecher in den Streifendienst des Southwestern District begann und unaufhaltsam fortschritt, bis er im siebten Stock des Präsidiums zum Halten kam. Dort kann sich Mullen dank seiner nicht nachlassenden Vorsicht, seines ausgezeichneten politischen Instinkts und seines Geschicks in Verwaltungsfragen seit fast einem Jahrzehnt als Stellvertreter halten. Als Weißer in einer schwarzen Stadt hat er jedoch keine Chance auf den Posten des Polizeichefs. Die Polizeichefs kamen und gingen, Ronald Mullen aber behielt im Auge, wer welche Leiche in welchem Keller versteckt hatte. Vom Sergeant aufwärts kann jeder in der Befehlskette bestätigen, dass der Deputy über fast alle Vorgänge im Präsidium Bescheid weiß und sich die restlichen meist zusammenreimt. Mit einem Anruf wird ihm noch vor dem Mittagessen ein Memorandum
Weitere Kostenlose Bücher