Homicide
funktionierender Klimaanlage und so viel frei schwebenden Asbestteilchen, dass sich der Teufel damit seinen Blaumann isolieren könnte. Um zehn vor drei schiebst du dir eine Scheibe kalte Pizza mit extra Chili für zwei Dollar fünfzig von Marco’s an der Exeter Street rein und siehst dir dabei auf dem Neunzehn-Zoll-Gemeinschaftsfernseher mit dem instabilen Bildlauf eine Wiederholung von
Hawai 05
an. Du nimmst den Hörer schon beim zweiten oder dritten Signal ab, weil die Stadtverwaltung Baltimores die Geräte von AT&T aus Kostengründen abgeschafft hat und die neuen Telefone nicht klingeln, sondern eher ein metallisches Blöken von sich geben. Wenn ein Kollege aus der Leitstelle am anderen Ende ist, schreibst du die Adresse, die Uhrzeit und dessen Dienstnummer auf einen herumliegenden Zettel oder die Rückseite eines benutzten Pfandscheins.
Dann erbettelst oder erschleichst du dir die Schlüssel zu einem der sechs Zivilfahrzeuge der Marke Chevrolet Cavalier, schnappst dir deinen Revolver, einen Notizblock, eine Taschenlampe und ein Paar weißer Gummihandschuhe und fährst zur richtigen Adresse, wo aller Wahrscheinlichkeit nach ein Streifenpolizist vor einer noch warmen Leiche wacht.
Du siehst sie dir an. Du studierst die Leiche wie ein abstraktes Gemälde, betrachtest sie aus jedem möglichen Blickwinkel und suchst nach einer tieferen Bedeutung, nach einer erkennbaren Struktur. Warum, fragst du dich, liegt dieser Tote hier? Was hat der Künstler ausgelassen? Was hat er hinzugefügt? Was, zum Teufel, stimmt nicht mit diesem Bild?
Du suchst nach der Ursache. Überdosis? Herzanfall? Einschüsse? Stichwunden? Sind das da Abwehrspuren auf der linken Hand? Schmuck? Geldbörse? Ist das Futter der Taschen herausgezogen? Hatdie Totenstarre eingesetzt? Gibt es Leichenflecken? Was besagt die Blutspur, die von der Leiche wegführt?
Du schreitest die Umgebung des Fundorts ab und suchst nach Projektilen, Patronenhülsen, Blutstropfen. Dann schickst du einen Uniformierten zu den umliegenden Häusern und Geschäften, oder wenn es richtig gemacht werden soll, gehst du selbst von Tür zu Tür und stellst Fragen, die einem Streifenpolizisten vielleicht nicht einfallen würden.
Du benutzt alles, was du zur Verfügung hast, und hoffst, dass etwas – irgendwas – dabei herauskommt. Die Leute von der Spurensicherung stellen Waffen, Kugeln und Patronenhülsen für die Ballistik sicher. In geschlossenen Räumen sorgst du dafür, dass von Türen und Griffen, von Möbeln und Utensilien Fingerabdrücke abgenommen werden. Du suchst den Toten und seine unmittelbare Umgebung nach losen Haaren und Fasern ab, denn es könnte ja der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass doch einmal ein Mord durch die Arbeit der Labortechniker gelöst wird. Außerdem suchst du nach anderen Auffälligkeiten, nach allem, was dem Augenschein nach nicht ins Umfeld passt. Wenn du etwas entdeckst – einen verrutschten Kissenbezug, eine herumliegende leere Bierdose –, lässt du es gleichfalls runter zur Spurensicherung bringen. Dann müssen die Techniker die wichtigsten Entfernungen ausmessen und den Fundort aus den verschiedensten Perspektiven fotografieren. Du machst dir eine Skizze in deinem Notizblock, mit dem Opfer als grobem Strichmännchen und den Möbeln und sichergestellten Beweismitteln an ihrem Stand- und Fundort.
Wenn die Uniformierten bei ihrer Ankunft so klug waren, sich jeden zu schnappen, den sie erwischen konnten, und ihn ins Präsidium zu schicken, fährst du wieder in dein Büro und bombardierst die Leute, die die Leiche gefunden haben, mit allen psychologischen Tricks, die du auf der Straße aufgeschnappt hast. Das Gleiche machst du mit den paar wenigen, die das Opfer gekannt haben, mit dem Vermieter, Arbeitgeber, und allen, die mit dem Opfer gebumst, gestritten oder sich mit ihm einen Schuss gesetzt haben. Ob sie dir Lügen auftischen? Natürlich. Jeder lügt. Lügen sie mehr als sonst? Vielleicht. Aber warum? Passen ihre Halbwahrheiten zu dem, was du am Fundort gesehen hast, oder erzählen sie einfach kompletten Müll? Wen sollst du als Ersten anschnauzen? Wen brüllst du am lautesten an? Wem drohst du mit einerAnklage wegen Beihilfe? Wen stellst du vor die Wahl, den Vernehmungsraum entweder als Zeuge oder als Tatverdächtigter zu verlassen? Wem bietest du die Entschuldigung – die Zuflucht – an, dass es gar keinen anderen Ausweg gab, als den armen Kerl zu töten, dass ihn unter diesen Umständen jeder umgebracht hätte, dass der
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