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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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Polizeihubschrauber geschossenen Luftaufnahmen.
    Wie schon bei Dutzenden Tagschichten zuvor blättert Pellegrini langsam durch einen Ordner, liest Wochen alte Berichte und sucht nach jenem einen Fetzen Information, den er beim ersten Lesen übersehen hat oder noch nicht einordnen konnte. Einige der Berichte stammen von ihm, andere sind von Edgerton, Eddie Brown, Landsman oder einem der zur Verstärkung geschickten Männer unterzeichnet. Das ist das Ärgerliche an den Red Balls, denkt Pellegrini, während er eine getippte Seite nach der anderen überfliegt. Da sie so wichtig sind, können sie ausufern wie ein Hollywoodschinken, ein Vier-Sterne-Chaos, von einem einzelnen Detective nicht mehr zu überblicken. Kaum war die Leiche gefunden, fühlte sich die gesamte Polizeibehörde für den Wallace-Fall zuständig, sodass die Haustürbefragungen schließlich von Streifenpolizisten durchgeführt und Zeugenaussagen von zu ihnen abkommandierten Officers mit nur ein paar Tagen Erfahrung in der Mordermittlung aufgenommen wurden. Mehr als zwei Dutzend Leute waren mit den Details der Fallakte vertraut.
    Auf der einen Seite hält Pellegrini die unbegrenzte Erweiterung des Personals durchaus für sinnvoll. In den ersten zwei Wochen nach Auffinden des Mädchens hatte es ihr Red-Ball-Express möglich gemacht, innerhalb kürzester Zeit ein riesiges Gebiet abzuarbeiten. Ende Februar hatte die Sonderkommission die Gegend in einem Umkreis von drei Blocks um den Fundort zweimal abgegrast, annähernd zweihundert Menschen befragt, drei genehmigte Hausdurchsuchungen durchgeführt und mit Einverständnis der Bewohner nahezu jedes Reihenhausauf der Nordseite der Newington Avenue inspiziert. Aber nun stapeln sich die Ergebnisse ihrer Arbeit in schriftlicher Form auf Pellegrinis Schreibtisch. Allein die Vernehmungsprotokolle füllen einen Ordner, während die Informationen über den Fish Man – noch immer ihr Hauptverdächtiger – in einer separaten Aktenmappe liegen.
    Pellegrini beugt sich vor und betrachtet etwa zum dreihundersten Mal die Fotos vom Fundort. Noch immer starrt das Mädchen mit seinem verlorenen Ausdruck auf das regennasse Pflaster. Ihr Arm ist weiterhin ausgestreckt, die Hand geöffnet, die Finger leicht gekrümmt.
    Es ist nicht so, dass die Abzüge in Tom Pellegrini noch irgendwelche Gefühle wecken. Das haben sie eigentlich nie getan, gesteht er sich im Stillen ein. Auf eine ganz bestimmte Art und Weise, die nur ein Mordermittler nachvollziehen kann, hat sich Tom Pellegrini schon gleich zu Beginn von seinem Opfer distanziert. Das war keine bewusste Entscheidung. Auf einer tiefen Ebene und fast wie psychisch programmiert legte sich in ihm ein Schalter um, als er das Gelände hinter der Newington Avenue betrat.
    Tom Pellegrini sieht keinen Grund, diese beinahe reflexhafte Reaktion zu hinterfragen. Wenn er es täte, wäre er wahrscheinlich rasch mit der Antwort bei der Hand, dass ein Detective nur dann sauber arbeiten kann, wenn er auch die schrecklichsten Tragödien mit klinischem Blick betrachtet. Und vor diesem Hintergrund ist ein junger, auf dem Pflaster hingestreckter Mensch – der Rumpf aufgeschlitzt, das Genick gebrochen, der Hals abgeknickt – nach dem ersten Schock nichts anderes als ein Objekt für die Spurensicherung. Ein guter Ermittler beugt sich über diese neue Gräueltat und verschwendet weder Zeit noch Kraft mit Fragen über die Natur des Bösen oder die Grausamkeit des Menschen. Stattdessen überlegt er, ob die schartige Wunde von einem Sägemesser herrührt oder ob die Verfärbungen auf der Unterseite des Beins auch wirklich Leichenflecken sind.
    Vordergründig ist dieses Berufsethos Teil eines Vorgangs, der den Detective vor dem Grauen bewahrt, aber wie Pellegrini weiß, verbirgt sich dahinter noch mehr. Es geht auch darum, Zeugnis ablegen zu können. Schließlich hat er das Mädchen – oder auch ihre Familie – nicht gekannt. Vor allem aber hat er nie um sie getrauert. Nach dem Auffinden ihrer Leiche war Pellegrini auf direktem Weg in die Rechtsmedizin gefahren,wo die Autopsie der Kleinen all seine klinische Beobachtungsgabe gefordert hatte. Die Mutter zu informieren und mit anzusehen, wie die Angehörigen vor Schmerz zusammenbrachen, war Edgerton zugefallen. Er war auch als Vertreter des Morddezernats zum Begräbnis gegangen. Seitdem hatte Pellegrini nur gelegentlich – und nur über Detailfragen – mit Angehörigen der Familie gesprochen. Sie waren bei diesen Anlässen hilfsbereit, aber zugleich

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