Homicide
was sie zu Ihnen gesagt hat«, erklärt Edgerton. »Hat sie einen Grund genannt, der einen Selbstmord erklären würde?«
»Sie sagt, er hat schon lange psychische Probleme gehabt«, schaltet sich der rotgesichtige Officer ein. »Er ist am elften gerade erst aus dem Springfield Hospital entlassen worden. Hier ist der Schein.«
Edgerton lässt sich den zerknitterten grünen Bogen geben undüberfliegt ihn kurz. Der Tote war in Behandlung wegen Persönlichkeitsstörungen und – bingo – Selbstmordtendenzen. Der Detective gibt den Bogen zurück und schreibt zwei weitere Zeilen in seinen Notizblock.
»Woher haben Sie das?«
»Von seiner Frau.«
»Ist die Spurensicherung unterwegs?«
»Mein Sergeant hat sie benachrichtigt.«
»Und was ist mit der Rechtsmedizin?«
»Das sollte ich vielleicht noch mal nachprüfen«, sagt der Officer und macht sich auf den Weg zu seinem Streifenwagen. Edgerton wirft seinen Notizblock auf den Esstisch und zieht den Mantel aus.
Er geht nicht direkt zum Opfer, sondern schreitet das Wohnzimmer ab und inspiziert den Fußboden, die Wände und die Möbel. Es ist ihm zur zweiten Natur geworden, an einem Tatort von außen zu beginnen und sich in immer engeren Kreisen auf die Leiche zuzubewegen. Damit folgt er demselben Instinkt, der ihn dazu veranlasst, nach Betreten eines Raums zehn Minuten lang erst einmal die Seiten seines Notizblocks mit den Ausgangsdaten zu füllen, ehe er einen genaueren Blick auf die Leiche wirft. Es dauert normalerweise Monate, ehe ein Mordermittler wirklich begreift, dass sich eine Leiche nicht vom Fleck bewegen wird, egal, wie lange er braucht, um den Tatort aufzunehmen. Der Tatort hingegen – sei es nun eine Straßenecke, der Innenraum eines Autos oder ein Wohnzimmer – beginnt sich aufzulösen, sobald sich der erste Mensch der Leiche nähert und sie entdeckt. Jeder im Morddezernat kann von Fällen berichten, bei denen Uniformierte durch eine Blutspur gelaufen sind oder Waffen berührt haben, die am Tatort herumlagen. Und nicht nur Uniformierte: Es kam immer wieder vor, dass ein Detective am Schauplatz einer Schießerei eintraf und dort einen Major oder Colonel vorfand, der herumwanderte, Geschosshülsen begrabschte oder die Brieftasche des Opfers filzte, wild entschlossen, auf jedem nur möglichen Beweisstück seine Fingerabdrücke zu hinterlassen
Leitsatz Nummer Zwei im kleinen klugen Buch des Mordermittlers: Ein Opfer wird nur einmal getötet, der Tatort aber kann tausend Mal ermordet werden.
Edgerton betrachtet die vom Opfer ausgehenden Spuren, um sicherzugehen,dass die Blut- und Hirnspritzer denen einer einzelnen Kopfwunde entsprechen. Hinter dem Sofa mit dem Toten zieht sich über die ganze Breite der weißen Wand ein rosaroter Bogen, der knapp fünfzehn Zentimeter über dem Kopf des Opfers beginnt und am Rahmen der Haustür etwa in Augenhöhe endet. Außerdem weist ein langer Bogen einzelner Spritzer in Richtung des Ohrfetzens neben der Fußmatte. Ein kleinerer Blutbogen erstreckt sich über die oberen Kissen des Sofas. In der schmalen Ritze zwischen Sofa und Wand entdeckt Edgerton ein paar Splitter des Schädels und auf dem Boden rechts vom Toten einen großen Teil dessen, was den Schädel des Mannes gefüllt hatte.
Nachdem sich der Detective vereinzelte Spritzer eingehend angesehen hat, ist ihm klar, dass die Blutspuren zu einer einzigen, von unten nach oben in die linke Schläfe gefeuerten Kugel passen. Das ergibt sich aus einfachen physikalischen Überlegungen. Ein Blutstropfen, der im Winkel von 90 Grad auf eine Oberfläche trifft, erzeugt ein symmetrisches Spritzbild, sodass die in alle Richtungen verlaufenden Tentakel in etwa die gleiche Länge haben. Ein Spritzer hingegen, der in einem stumpfen Winkel auf eine Oberfläche trifft, hat die längsten Tentakel in der Richtung, die der Quelle des Bluts gegenüberliegt. Gäbe es im vorliegenden Fall Blutspuren, deren Tentakel in eine andere Richtung wiesen als in die Verlängerung vom Kopf des Opfers, müsste man weitere Nachforschungen anstellen.
»Okay«, sagt der Detective und schiebt den Couchtisch vor dem Opfer beiseite. »Schauen wir mal, was mit dir los ist.«
Der Tote ist nackt, die untere Köperhälfte mit einer karierten Decke bedeckt. Er sitzt in der Mitte der Couch und was von seinem Kopf übrig ist, ruht auf der Rückenlehne des Möbelstücks. Sein linkes Auge starrt zur Zimmerdecke, das andere ist von der Schwerkraft tief in die Höhle gezogen worden.
»Er hat da seine
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