Homicide
abzukratzen. Danke, mein Sohn, dass Sie für Baltimore die Kugeln fangen.
Der Sergeant schmeißt das Blättchen zurück auf den Schreitisch und steht auf. Beim Hinausgehen wirft er noch einmal einen Blick auf die Tafel.
Vines, Ward und Jones. Rot, rot und rot.
Aha, denkt McLarney, so ein Jahr wird das also.
Donnerstag, 26. Januar
Harry Edgertons Tag fängt gut an. Um ein Haar wäre er mit seinem frisch geputzten Slipper auf das Ohr des Toten getreten, als er durch die Tür des Stadthauses in Northeast Baltimore schritt.
»Achtung, das Ohr.«
Als Edgerton aufblickt, sieht er einen rotgesichtigen Streifenpolizisten, der sich an die Wohnzimmerwand lehnt.
»Wie bitte?«
»Sein Ohr«, sagt der Uniformierte und zeigt auf den Parkettboden. »Sie wären fast draufgetreten.«
Edgerton betrachtet den blassen Fleischfetzen neben seinem rechtenSchuh. Ganz klar ein Ohr. Fast das gesamte Ohrläppchen sowie der gekringelte Rand der Muschel, gleich neben der Fußmatte an der Haustür. Der Detective mustert den Toten und die Schrotflinte auf dem Sofa, dann geht er, sorgfältig auf seine Schritte achtend, zum anderen Ende des Raums.
»Wie lautet die Zeile noch«, sagt der Streifenpolizist, als hätte er es eine Woche lang geübt: »Mitbürger! Freunde! Römer! …«
»Bullen sind doch einfach krank.« Edgerton lacht und schüttelt den Kopf. »Wer ist zuständig?«
»Klarer Selbstmord. Sie ist diejenige, welche.«
Der ältere Beamte zeigt auf eine Frau in Uniform, die am Esstisch sitzt. Die junge Schwarze mit den zarten Zügen schreibt bereits an ihrem Bericht. Sie ist neu im Streifendienst, wie Edgerton auf einen Blick sieht.
»Hallo.«
Die Frau nickt.
»Sie haben ihn gefunden? Wie lautet Ihre Dienstnummer?«
»Vier-zwo-drei.«
»Haben Sie den Toten oder sonst irgendwas angefasst?«
Die Frau sieht Edgerton an, als käme er von einem anderen Stern. Ihn anfassen? Sie wagt es ja kaum, den armen Hund anzusehen. Sie schüttelt den Kopf, dann wirft sie aus den Augenwinkeln einen Blick zur Leiche hinüber. Edgerton wendet sich zu dem rotgesichtigen Officer. Der versteht, was er will, und akzeptiert die stumme Bitte des Detective.
»Wir gehen die Sache mit ihr durch«, sagt der Uniformierte ruhig. »Sie wird es schon schaffen.«
Die Polizeiakademie bildete seit mehr als zehn Jahren auch Frauen aus, und, soweit es Edgerton betraf, war in dieser Sache das letzte Wort noch nicht gesprochen. Viele Frauen, die in den Polizeidienst eintraten, brachten ausreichend Sachverstand und Leistungsbereitschaft mit, und manche waren sogar gute Cops. Edgerton aber wusste, dass da draußen auch einige unterwegs waren, die ein großes Risiko darstellten. Sekretärinnen, nannten sie die älteren Kollegen. Sekretärinnen mit Schusswaffen.
Mit jeder neuen Geschichte, die man erzählte, wurde es schlimmer.Sie alle hatten von dem Mädchen im Northwestern District gehört, einer Neuen, die sich in einem Laden in Pimlico von einem geistig Verwirrten die Pistole abnehmen ließ. Oder von der Polizistin vom Western District, die den Ruf 13 absetzte – ein Notsignal, das bedeutet, dass ein Kollege in Gefahr ist –, als ihr Partner von fünf Bewohnern eines Ghettohauses im Sector 2 brutal zusammengeschlagen wurde. Als die Funkwagen mit quietschenden Reifen heranbrausten, stand sie in der Einfahrt und wies die Kollegen zur Haustür, als würde sie auf einer Kreuzung den Verkehr regeln. Geschichten wie diese erzählte man sich in jedem Mannschaftsraum und auf allen Dienststellen.
Während man sich in anderen Abteilungen zähneknirschend mit weiblichen Officers abfand, blieb das Morddezernat eine Männerbastion, wo es so anzüglich zuging wie in der Umkleidekabine eines Footballclubs und wo man erst nach der zweiten Scheidung richtig dazugehörte. Nur einmal hatte es eine Polizistin eine Zeit lang bei ihnen ausgehalten: Jenny Wehr blieb drei Jahre – lange genug, um zu beweisen, dass sie eine gute Ermittlerin war und bei Vernehmungen Außergewöhnliches leisten konnte, aber nicht so lange, dass daraus so etwas wie ein Trend wurde.
Zwei Wochen zuvor war Bertina Silver zum Morddezernat versetzt worden und in Stantons Team gekommen – als einzige Frau unter sechsunddreißig Detectives und Sergeants. Nach Ansicht ihrer früheren Kollegen im Drogendezernat und im Streifendienst war sie ein richtiger Cop: hart, aggressiv und intelligent. Trotzdem – die Entscheidung, Frauen mit Dienstmarken auszustatten, sahen viele Detectives im Morddezernat als
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