Honecker privat
automatisch erledigt werde, wenn ich zugegen war. Wünsche hatte er nie. Wenn alles wie ein Uhrwerk lief, war es gut. Nun kann ich mir denken, dass mancher dieses Schweigen als Ignoranz deutet, gar als Ausdruck von Arroganz gegenüber den Angestellten. Als wäre es unter Honeckers Würde gewesen, das Wort an einen Domestiken zu richten. Nein, das war es nicht. Sein Verhältnis zu mir und meinesgleichen schien mir eine merkwürdige Mischung aus verschiedenen Empfindungen zu sein. Auf der einen Seite lehnte er es als Kommunist aus Überzeugung ab, sich ständig bedienen zu lassen. Er war kein Herr, kein Graf Koks, kein Bourgeois. Auf der anderen Seite war er auf derlei Dienstleitungen objektiv angewiesen, er war aus verschiedenen Gründen gezwungen, sie in Anspruch zu nehmen. Aus diesem Zwiespalt befreite er sich, indem er gar nichts sagte. Ich war nicht da, und weil ich da war, war alles in Ordnung.
Wenn das Parlament, die Volkskammer, tagte, gab es ebenfalls eine spezielle gastronomische Versorgungseinrichtung. Honecker nahm zwar an den meisten Sitzungen teil, doch er hat dort nie das Wort ergriffen. Eine Wahlperiode oder Legislatur dauerte vier bis fünf Jahre, die erste Volkskammer war noch ein halbes Hundert Mal zusammengetreten, die achte (von 1981 bis 1986) nur noch zwölf Mal, was als ein gewisses Indiz für die sinkende Bedeutung des Parlaments in der DDR gelten kann. Honecker war am 29. Oktober 1976, zu Beginn der 7. Legislaturperiode, zum Staatsratsvorsitzenden gewählt und vom Volkskammerpräsidenten Horst Sindermann vereidigt worden. Der Spruch der Eidesformel war sein einziger Wortbeitrag vor dem Hohen Hause, wie es heißt.
Durch meine gelegentlichen Einsätze in verschiedenen Bereichen des Palastes hatte ich viele Kontakte mit Kollegen. Das sollte mir den Start als Oberkellner im Spreerestaurant am 1. Januar 1990 erleichtern. Daran aber war 1976 so wenig zu denken wie an den Abriss des ganzen Hauses, der 2006 begann.
Diplomatenjagd und andere Abschüsse
Der politische Kalender Erich Honeckers war von stets wiederkehrenden Jahrestagen und damit verbundenen Verpflichtungen diktiert. Zu jenen gehörten die Besuche in der sowjetischen Botschaft unter den Linden. Zweimal im Jahr lud man dort zu einem großen Empfang: am 23. Februar anlässlich der Gründung der Roten Armee und am 7. November zum Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution.
Gelegentlich wurde ich als Kellner dorthin ausgeliehen. Wenn Abrassimow bei bestimmten Empfängen Bedienungspersonal brauchte, forderte er es in Wandlitz an. Das geschah auf dem kurzen Dienstweg. Der »Regierende Botschafter« bewegte sich frei in der Waldsiedlung und kaufte auch im Ladenkombinat ein. Dazu musste er nicht einmal weit fahren, denn er bewohnte im Dorf Wandlitz eine Villa, die ihm die DDR finanzierte. Auch das Hauspersonal wurde von der DDR gestellt. Und wünschte Pjotr Abrassimow Mittag zu speisen, lieferten wir nach Bestellung ebenfalls.
In der sowjetischen Botschaft erlebte ich Erich Honecker meist aufgekratzt. Anders als bei anderen Anlässen trank er schon mal mit sowjetischen Generälen einen Wodka, was merklich zur Stimmungsverbesserung beitrug. Er ging dann, wie man so sagt, aus sich heraus. So erlebte ich ihn normalerweise nie, auch nicht daheim. Meist war er sehr konzentriert und angespannt.
Seine Selbstkontrolle schien mir am stärksten, als wir im Sommer 1975 für vier Tage nach Helsinki flogen. 33 europäische Staats- und Regierungschefs sowie der US-Präsident und Kanadas Premier reisten in die finnische Hauptstadt, um das in mehreren Jahren ausgehandelte Schlussdokument der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu unterzeichnen. Honecker, den ich wie gewohnt als Steward und Kellner begleitete, war angespannt wie noch nie. Was auch nicht überraschte: Es war sein erster Auftritt auf der politischen Weltbühne. Dabei hatte er noch nicht einmal ein Staatsamt. Er war weder Regierungschef noch Staatsoberhaupt, sondern lediglich Erster Sekretär des ZK der SED. Dessen muss er sich wohl bewusst geworden sein, denn nach Jahresfrist ließ er sich im Nachgang zum Vorsitzenden des Staatsrates wählen. Eigentlich hätte Willi Stoph, der dieses Amt seit Ulbrichts Tod 1973 führte, nach Helsinki reisen müssen. Doch nach Erfurt und Kassel 1970 wollte es Honecker diesmal selber wissen.
Bei der Unterzeichnung in der Finlandia-Halle saßen die gekrönten Häupter in alfabetischer Reihenfolge ihrer Staaten, was dazu führte,
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