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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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komischen oder blöden Sachen«, die andere Leute sagten. Sie hielt auch »kleine Geschichten über Geschichten« oder einfach nur »Gedanken« fest. Das Notizbuch war immer in Reichweite, und es kam vor, dass sie mitten in einer Unterhaltung zu schreiben anfing. Die anderen Mädchen im Büro zogen sie damit auf, und ich war neugierig, ob sie schriftstellerische Ambitionen hatte. Ich erzählte ihr regelmäßig von den Büchern, die ich gerade las, und obwohl sie höflich, ja gespannt zuhörte, brachte sie nie [71] eine eigene Meinung vor. Ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt irgendetwas las. Entweder das, oder sie wahrte ein großes Geheimnis.
    Sie wohnte nur eine Meile nördlich von mir in einem winzigen Zimmer im dritten Stock mit Aussicht auf die donnernde Holloway Road. Wir kannten uns knapp eine Woche, als wir anfingen, abends zusammen auszugehen. Wenig später bekam ich mit, dass unsere Freundschaft uns im Büro den Spitznamen »Laurel und Hardy« eingebracht hatte; nicht weil sie uns für Slapstick-Figuren hielten, sondern wegen unserer unterschiedlichen Silhouetten. Ich sagte Shirley nichts davon. Ihr wäre es nie eingefallen, abends irgendwo anders hinzugehen als in Pubs, vorzugsweise solche mit lauter Musik. Die gehobenen Lokale rund um Mayfair interessierten sie nicht. Nach wenigen Monaten kannte ich mich ganz gut aus in den Kneipen von Camden, Kentish Town und Islington, kannte ihre menschliche Fauna, ihre verschiedenen Abstufungen von Anstand und Verfall.
    Bei unserem ersten Streifzug durch Kentish Town erlebte ich in einem Irish Pub eine furchtbare Schlägerei. Im Film ist ein Kinnhaken banal, in der Realität ganz und gar nicht, auch wenn das Geräusch, das Knirschen der Knochen, wesentlich gedämpfter und schlapper klingt. Für eine behütete junge Frau sah das unglaublich leichtsinnig aus, wie diese Fäuste, die tagsüber auf dem Bau die Spitzhacke schwangen, jetzt auf ein Gesicht einhämmerten, ohne jede Rücksicht auf den Gegenschlag, auf die Folgen, auf das Leben selbst. Wir sahen von unseren Barhockern aus zu. Etwas schwirrte am Zapfhahn vorbei durch die Luft – ein Knopf oder ein Zahn. Weitere Leute stürzten hinzu, das [72] Gebrüll wurde immer lauter, und der Barmann, ein patent wirkender Bursche mit einem tätowierten Äskulapstab am Handgelenk, sprach in ein Telefon. Shirley schlang einen Arm um meine Schultern und schob mich zum Ausgang. Unser Rum Cola blieb mit schmelzenden Eiswürfeln auf dem Tresen zurück. »Die Polizei ist unterwegs, braucht vielleicht Zeugen. Wir gehen besser.« Auf der Straße fiel uns ihr Mantel ein. »Ach, lass«, winkte sie ab. Sie ging bereits weiter. »Der Mantel ist eh scheußlich.«
    Wir waren an solchen Abenden nicht auf Männerjagd. Stattdessen redeten wir viel – über unsere Familien, über unser bisheriges Leben. Sie erzählte von ihrem syrischen Arzt, ich erzählte von Jeremy Mott, aber nicht von Tony Canning. Büroklatsch war strengstens verboten, auch uns bescheidenen Anfängern, und es war Ehrensache, sich an die Regeln zu halten. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass man Shirley bereits wichtigere Aufgaben anvertraute als mir. Sie danach zu fragen, wäre stillos gewesen. Wenn unsere Kneipengespräche unterbrochen wurden, wenn Männer sich an uns heranmachten, wollten sie eigentlich mich und bekamen stattdessen Shirley. Sie nahm die Sache in die Hand, und ich war es zufrieden, stumm neben ihr zu sitzen. Die Typen hatten keine Chance gegen ihre Scherze, ihr Lachen, die munter geschwätzigen Fragen, was sie so machten und wo sie herkamen, und zogen wieder ab, nachdem sie uns eine oder zwei Runden Rum Cola ausgegeben hatten. In den Hippiekneipen um Camden Lock, das damals noch keine Touristenattraktion war, waren die langhaarigen Männer heimtückischer und hartnäckiger, sie probierten es auf die sanfte Tour und redeten von ihren [73] weib-lichen Seiten, vom kollektiven Unbewussten, von Venustransit und ähnlichem Humbug. Shirley ließ sie mit verständnisloser Freundlichkeit abblitzen, während ich vor diesen Leuten, die mich an meine Schwester erinnerten, zurückwich.
    Wir gingen wegen der Musik in diese Gegend und tranken uns meist bis zum Dublin Castle am Parkway durch. Shirley hatte eine jungenhafte Vorliebe für Rock, und in den frühen Siebzigern spielten die besten Bands in Pubs, oft höhlenartigen viktorianischen Lokalen. Zu meiner Überraschung fand ich selbst allmählich Gefallen an dieser ungestümen, unprätentiösen Musik. In

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