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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Cambridge-Beziehungen, nicht annähernd so hoch aufgestiegen? Ich fing drei Jahre nach ihr beim MI 5 an, und es stimmt, ich trat einen ähnlichen Weg an wie den, den sie in ihren Memoiren beschreibt – dasselbe finstere Gebäude in Mayfair, dieselbe Ausbildung in einem schlecht beleuchteten Schlauch von Schulungsraum, dieselben ebenso sinnlosen wie geheimnisvollen Aufgaben. Aber als ich 1972 [63] anfing, war Trimingham bereits eine Legende unter den frisch rekrutierten jungen Frauen. Bedenken Sie, wir waren Anfang zwanzig, sie schon Mitte dreißig. Meine neue Freundin Shirley Shilling machte mich auf sie aufmerksam. Trimingham stand, einen Packen Akten unterm Arm, vor einem schmutzigen Fenster am Ende eines Korridors und sprach eindringlich auf einen namenlosen Mann ein, der allem Anschein nach in den umwölkten Höhen der Macht zu Hause war. Sie wirkte unbefangen, fast wie eine Gleichgestellte, selbst Witze durfte sie sich offenbar erlauben, denn plötzlich lachte er laut auf und legte ihr kurz eine Hand auf den Unterarm, als wollte er sagen, Sie mit Ihrem Humor, Sie machen mich fertig.
    Wir Neuankömmlinge bewunderten sie, denn wir hatten gehört, sie habe das Katalogisierungssystem und die Feinheiten der Registratur so schnell gemeistert, dass sie in weniger als zwei Monaten befördert worden war. Manche sprachen von wenigen Wochen oder gar Tagen. In ihrer Garderobe glaubten wir einen Hauch von Rebellion wahrzunehmen, bunte Kattunkleider und Schals, in Pakistan gekauft, wo Trimingham in irgendeinem gesetzlosen Außenposten für den Nachrichtendienst gearbeitet hatte. So redeten wir untereinander. Wir hätten sie selbst fragen sollen. Ein halbes Leben später las ich in ihren Memoiren, dass sie in der Dienststelle Islamabad Büroarbeit geleistet hatte. Ich weiß immer noch nicht, ob sie an dem Frauenaufstand in jenem Jahr teilgenommen hat, als weibliche MI 5-Angestellte für bessere Aufstiegschancen kämpften. Sie wollten Agenten führen dürfen, wie ihre männlichen Kollegen, die sogenannten Führungsbeamten. Ich vermute, Trimingham [64] unterstützte diese Forderungen, vermied es jedoch, sich an gemeinsamen Aktionen, Reden und Resolutionen zu beteiligen. Noch immer ist mir ein Rätsel, warum von dem Aufstand nichts zu uns Neulingen durchdrang. Vielleicht hielt man uns für zu unbedeutend. Dass sich im Nachrichtendienst langsam etwas änderte, mochte vor allem am Zeitgeist liegen, Trimingham aber war die erste Ausbrecherin, die Erste, die im Frauentrakt ein Loch in die gläserne Decke bohrte. Sie tat das in aller Stille, mit Taktgefühl. Wir anderen kraxelten geräuschvoll hinter ihr her. Ich war eine der Letzten. Und als sie aus der Ausbildungseinheit versetzt wurde, bekam sie es mit der harten neuen Zukunft zu tun – dem Terrorismus der IRA –, während viele von uns Nachzüglerinnen noch eine Zeitlang die alten Schlachten gegen die Sowjetunion weiterkämpften.
    Den größten Teil der unteren Etage nahm die Registratur in Anspruch, das ungeheure Dokumentenarchiv, in dem über dreihundert Sekretärinnen aus guten Familien wie Sklaven an den Pyramiden schufteten, Aktenanfragen bearbeiteten, Akten an Führungsbeamte im ganzen Gebäude zurückgaben oder verteilten und das eingehende Material sortierten. Man hielt das System für so effektiv, dass man es viel zu lange gegen das Computerzeitalter abschottete. Es war das letzte Bollwerk, die letzte Tyrannei des Papiers. So wie man einen Rekruten bei der Armee auf sein neues Leben einstimmt, indem man ihn Kartoffeln schälen und den Exerzierplatz mit einer Zahnbürste schrubben lässt, verbrachte ich meine ersten Monate damit, Mitgliederlisten von Kreisverbänden der Kommunistischen Partei von Großbritannien zusammenzustellen und Akten zu [65] denjenigen anzulegen, die noch nicht erfasst waren. Mein Spezialgebiet war Gloucestershire. (Trimingham hatte zu ihrer Zeit Yorkshire.) Im ersten Monat eröffnete ich eine Akte über den Direktor eines Gymnasiums in Stroud, der an einem Samstagabend im Juli 1972 eine öffentliche Versammlung seines Kreisverbands besucht hatte. Er schrieb seinen Namen auf ein Blatt Papier, das die Genossen herumreichten, wurde dann aber offenbar doch nicht Mitglied. Er stand auf keiner einzigen der Beitragslisten, die man uns zugespielt hatte. Ich beschloss dennoch, eine Akte über ihn anzulegen, denn jemand in seiner Position hatte natürlich Einfluss auf junge Menschen. Das geschah auf meine eigene Initiative – es war das allererste Mal

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