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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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–, und daher erinnere ich mich an seinen Namen, Harold Templeman, und sein Geburtsjahr. Hätte Templeman jemals die Schulmeisterei aufgegeben (er war erst dreiundvierzig) und sich um eine Beamtenstelle beworben, die ihn in Kontakt mit Geheimdokumenten gebracht hätte, wäre bei der Sicherheitsüberprüfung jemand auf seine Akte gestoßen. Templeman wäre zu jenem Juliabend befragt worden (und hätte das sicherlich beeindruckend gefunden), vielleicht hätte man seine Bewerbung aber auch gleich abgelehnt, und er hätte nie den Grund dafür erfahren. Perfekt. Theoretisch jedenfalls. Wir lernten erst noch die komplizierten Regeln, die bestimmten, was es wert war, in eine Akte aufgenommen zu werden. Zu Beginn des Jahres 1973 empfand ich solch ein geschlossenes, funktionierendes System, wie sinnlos es auch sein mochte, als tröstlich. Wir zwölf, die wir in diesem Raum arbeiteten, wussten sehr wohl, dass kein Agent der sowjetischen Zentrale sich uns jemals zu erkennen geben würde, [66] indem er der Kommunistischen Partei von Großbritannien beitrat. Aber das war mir egal.
    Auf dem Weg zur Arbeit dachte ich oft über den himmelweiten Unterschied zwischen meiner Stellenbeschreibung und der Wirklichkeit nach. Ich konnte mir sagen – da ich es niemand anderem sagen konnte –, dass ich für den MI 5 arbeitete. Das klang doch immerhin aufregend. Noch heute rührt es mich ein wenig, wenn ich an das blasse junge Ding denke, das seinen Beitrag fürs Vaterland leisten wollte. Aber ich war nur irgendein Büromädchen im Minirock, zusammengepfercht in der U-Bahn mit all den anderen, wir waren Tausende, die sich beim Umsteigen in Green Park durch die verdreckten Verbindungsgänge schoben, wo Müll und Staub und stinkende unterirdische Luftströme, die wir als etwas Unausweichliches akzeptierten, uns ins Gesicht schlugen und unsere Frisuren ruinierten. (Heute ist London sehr viel sauberer.) Und wenn ich bei der Arbeit ankam, war ich immer noch ein Büromädchen unter zigtausend anderen in der Hauptstadt, das inmitten von Zigarettenqualm kerzengerade dasaß und auf die Tasten einer riesigen Remington einhämmerte, Akten holte, Männerhandschriften entzifferte, aus der Mittagspause zurückhastete. Ich verdiente sogar weniger als die meisten anderen. Und genau wie die berufstätige junge Frau in einem Gedicht von Betjeman, das Tony mir einmal vorgelesen hatte, wusch auch ich meine Unterwäsche im Waschbecken meines möblierten Zimmers.
    Als Büroangestellte der untersten Dienststufe betrug mein Einstiegslohn netto vierzehn Pfund und dreißig Pence pro Woche, in der neu eingeführten Dezimalwährung, die [67] ihren unseriösen, halbgaren, fragwürdigen Ruch damals noch nicht verloren hatte. Vier Pfund die Woche bezahlte ich für mein Zimmer, dazu ein Pfund für Strom. Meine Fahrtkosten beliefen sich auf etwas über ein Pfund, so dass mir für Essen und alles andere acht Pfund blieben. Ich erwähne diese Einzelheiten nicht, um mich zu beklagen, sondern im Geiste Jane Austens, deren Romane ich in Cambridge verschlungen hatte. Wie kann man das Innenleben einer Person verstehen, sei sie real oder erfunden, wenn man ihre finanzielle Lage nicht kennt? Miss Frome, jüngst eingezogen in eine winzige Behausung in der St. Augustine’s Road Nummer siebzig, London North West One, verdiente weniger als tausend im Jahr und grämte sich. Ich schlug mich von Woche zu Woche durch, fühlte mich aber gewiss nicht als Teil einer glamourösen Geheimwelt.
    Doch ich war jung und konnte mich nicht den lieben langen Tag grämen. Meine ständige Gefährtin in den Mittagspausen und auch abends war Shirley Shilling, deren alliterierender Name in der verlässlichen alten Währung etwas von ihrem breiten, schiefen Lächeln einfing und ihrem altmodischen Sinn für die Freuden des Lebens. Gleich in der ersten Woche bekam sie Ärger mit unserer kettenrauchenden Vorgesetzten, Miss Ling, weil sie sich »zu lange auf der Toilette aufgehalten« hatte. Tatsächlich war Shirley um zehn Uhr aus dem Gebäude geeilt, um sich ein Kleid für eine Party am Abend zu kaufen, war zu einem Kaufhaus in der Oxford Street gerannt, hatte genau das Richtige gefunden, es anprobiert, nochmals in größer anprobiert, bezahlt und den Bus zurück genommen – alles in zwanzig Minuten. Mittags wäre dazu keine Zeit gewesen, weil sie da [68] Schuhe kaufen wollte. Keine von uns anderen Neuen hätte sich das getraut.
    Was wir von ihr hielten? Der kulturelle Wandel der vergangenen Jahre mochte

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