Honig
Nachkriegszeit interessiert hatten, obwohl ich von seinen guten Beziehungen zum MI 5 wusste! Der Nachruf endete mit einer kurzen Zusammenfassung der Jahrzehnte danach – Journalismus, veröffentlichte Bücher, Staatsdienst, Cambridge, Tod.
Für mich änderte sich nichts. Ich arbeitete weiter in der Curzon Street und pflegte das kleine Grab meines heimlichen Kummers. Tony hatte mir einen Beruf ausgesucht, mir seine Kopfweiden, Steinpilze, seine Ansichten und seine Weltgewandtheit vermacht. Aber ich hatte kein Beweisstück, kein Unterpfand, kein Foto von ihm, keinen Brief, nicht einmal ein Zettelchen, da wir uns stets nur telefonisch verabredet hatten. Gewissenhaft wie ich war, hatte ich ihm alle Bücher, die er mir geliehen hatte, nach der Lektüre immer sofort zurückgegeben, bis auf eines, R. H. Tawneys Religion und Frühkapitalismus . Ich suchte mein ganzes Zimmer ab, verzweifelt sah ich immer wieder an denselben Stellen nach. Der flexible grüne Buchdeckel war ausgebleicht, der kreisrunde Abdruck einer Tasse zog sich durch die Initialen des Autors, ein schlichtes »Canning« stand in herrischer, violetter Tinte auf dem ersten Vorsatzblatt, und nahezu jede Seite wies mit hartem Bleistift geschriebene Randbemerkungen auf. Was für ein Schatz. Aber er hatte sich in Luft aufgelöst, wie nur Bücher es können, vielleicht bei meinem Auszug aus dem Zimmer am Jesus Green. Als Andenken an Tony waren mir nur ein gleichgültig überlassenes Lesezeichen geblieben, auf das ich noch zurückkommen werde, und mein Job. Er hatte mich in dieses schmuddelige Büro im Leconfield House [80] geschickt. Es gefiel mir nicht, aber es war sein Vermächtnis, und ich hätte es nicht ertragen, irgendwo anders zu sein.
Indem ich stoisch und ohne zu klagen weiterarbeitete und demütig Miss Lings Schmähungen über mich ergehen ließ, hielt ich die Erinnerung an ihn wach. Wäre ich schlampig und unpünktlich gewesen, oder hätte ich mich beklagt oder den MI 5 verlassen wollen, dann hätte ich ihm Schande gemacht. Ich steigerte mich in eine große, tragische Liebe hinein, und schürte damit meinen Schmerz nur umso mehr. Akrasie! Wenn ich das Gekritzel eines Führungsbeamten mit besonderer Sorgfalt abtippte, fehlerfrei und in dreifacher Ausfertigung, erfüllte ich damit meine Pflicht und ehrte das Andenken des Mannes, den ich geliebt hatte.
Insgesamt waren wir zwölf Neue, drei davon Männer. Von diesen waren zwei verheiratete Geschäftsleute in den Dreißigern und folglich für keine von uns Frauen von Interesse. Dem Dritten, Greatorex, hatten seine ehrgeizigen Eltern den Vornamen Maximilian verpasst. Er war um die dreißig, hatte abstehende Ohren und eine äußerst zurückhaltende Art, ob aus Schüchternheit oder Überheblichkeit, wusste keine von uns zu sagen. Er war vom MI 6 zu uns versetzt worden und hatte bereits den Status eines Führungsbeamten, weshalb er nur bei uns Neuen herumsaß, um unser System kennenzulernen. Die anderen zwei Männer, die Geschäftsleute, würden auch schon bald Beamtenstatus erlangen. Was mir beim Vorstellungsgespräch sauer aufgestoßen war, beschäftigte mich jetzt nicht mehr. Im Laufe unserer chaotischen Ausbildung absorbierte ich den Korpsgeist und freundete mich, nach dem Vorbild der anderen [81] Mädchen, allmählich mit dem Gedanken an, dass Frauen in diesem kleinen Teil der Erwachsenenwelt, anders als überall sonst im Staatsdienst, einer niedrigeren Kaste angehörten.
Wir verbrachten jetzt noch mehr Zeit mit den Dutzenden von anderen Mädchen in der Registratur, lernten die strengen Vorschriften für die Aktenentnahme und entdeckten, auch wenn uns das keiner sagte, dass es konzentrische Kreise von Zugriffsberechtigungen gab und wir am äußersten Rand in Finsternis schmachteten. Auf klappernden, ständig defekten Rollwagen wurden Akten in die verschiedenen Abteilungen im ganzen Gebäude gekarrt. Wenn mal wieder einer streikte, wusste Greatorex ihn mit winzigen Schraubenziehern, die er stets bei sich trug, wieder in Gang zu bringen. Die blasierteren Mädchen bedachten ihn mit dem Spitznamen »Faktotum« und machten ihn damit als Heiratskandidaten unmöglich. Zum Glück für mich, denn trotz meiner Trauer begann ich mich langsam für Maximilian Greatorex zu interessieren.
Gelegentlich wurden wir am späten Nachmittag zu einem Vortrag »eingeladen«. Es wäre undenkbar gewesen, nicht hinzugehen. Das Thema entfernte sich nie sehr weit vom Kommunismus: seine Theorie und Praxis, seine geopolitischen
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