Honig
erst zu sagen, ich solle meine Bluse in den Wäschekorb legen, und dann so tun, als hätte er das vergessen, und sich unmöglich aufzuführen, damit ich ihm nicht nachlief und ihm seine letzten Monate noch schwerer machte. Musste das wirklich so kompliziert sein? So hart?
Auf der Fahrt errötete ich bei der Erinnerung daran, wie überlegen ich mir ihm in Gefühlsdingen vorgekommen war. Ich errötete, und dann brach ich in Tränen aus. Die Passagiere neben mir in der überfüllten U-Bahn schauten taktvoll weg. Er hatte zweifellos gewusst, wie viel von unserer Vergangenheit ich würde umschreiben müssen, wenn ich die Wahrheit erfuhr. Womöglich war ihm die Vorstellung ein Trost, dass ich ihm dann verzeihen würde. Wie abgrundtief traurig. Aber warum gab es keinen posthumen Brief an mich, mit Erklärungen, gemeinsamen Erinnerungen, einem Lebwohl, Anerkennung, etwas, mit dem ich leben konnte, irgendetwas, das an die Stelle unserer letzten Szene getreten wäre? Noch wochenlang quälte mich der [77] Verdacht, ein solcher Brief könnte von der »Haushälterin« oder von Frieda abgefangen worden sein.
Tony im Exil, müde an einsamen Stränden, ohne den Bruder und Spielgefährten, mit dem er die sorgenfreien Tage geteilt hatte – Terence Canning war am D-Day bei der Landung in der Normandie gefallen –, fern von seinem College, seinen Freunden, seiner Frau. Und vor allem: fern von mir. Frieda hätte Tony pflegen können, er hätte in dem Cottage oder zu Hause in seinem Schlafzimmer sein können, umgeben von seinen Büchern, mit Besuchen von Freunden, von seinem Sohn. Selbst ich hätte mich irgendwie einschleichen können, getarnt als ehemalige Studentin. Blumen, Champagner, Familie und alte Freunde, alte Fotos – mit so etwas versuchten die Leute doch, sich das Sterben erträglicher zu gestalten, oder nicht? Wenn sie nicht gerade um jeden Atemzug rangen, sich vor Schmerzen krümmten oder vor Angst und Schrecken wie gelähmt waren.
In den folgenden Wochen spulten sich unzählige kleine Momente mit Tony noch einmal in meinem Kopf ab. Diese Mittagsschläfchen, die mich so ungeduldig machten, dieses graue Morgengesicht, dessen Anblick ich kaum ertrug. Damals hatte ich gedacht, so ist das nun einmal, wenn man vierundfünfzig ist. Besonders einer tauchte hartnäckig immer wieder auf – jener kurze Moment im Schlafzimmer neben dem Wäschekorb, als Tony mir von Idi Amin und der Vertreibung der Asiaten aus Uganda erzählte. Zu der Zeit war das gerade überall in den Schlagzeilen. Der grausame Diktator jagte seine Landsleute zu Tausenden davon, von denen viele britische Pässe besaßen. Unsere Regierung unter Ted Heath ignorierte die Hetzkampagne der [78] Boulevardzeitungen und wollte sie, was von Anstand zeugte, bei uns aufnehmen. Tony fand das ebenfalls richtig. Er unterbrach sich und sagte noch im selben Atemzug: »Wirf sie einfach zu meinen Sachen da rein. Wir kommen ja bald wieder.« Einfach so, eine alltägliche Haushaltsanweisung, und dann setzte er seinen Gedankengang fort. Wenn das nicht raffiniert war, zu einer Zeit, da ihn sein Körper bereits im Stich ließ und seine Pläne Gestalt annahmen! Plötzlich sah er eine Chance, die Sache einzufädeln, und ergriff sie auf der Stelle. Sonst hätte er sich später etwas ausdenken müssen. Vielleicht war das gar kein hinterhältiger Trick, sondern eine Vorgehensweise, die er sich in seiner Zeit bei der SOE angewöhnt hatte – die zum Handwerkszeug gehörte. Als Täuschungsmanöver war es jedenfalls geschickt ausgeführt. Er stieß mich weg, und ich war zu gekränkt, um ihm nachzulaufen. Ich glaube nicht, dass ich ihn damals, während der Monate im Cottage, wirklich geliebt habe; das redete ich mir erst ein, nachdem ich von seinem Tod erfahren hatte. Der Trick, sein Täuschungsmanöver, war ein perfideres Doppelspiel als jede Liebesaffäre eines verheirateten Mannes. Ich konnte ihn sogar dafür bewundern, aber ganz verzeihen konnte ich ihm nicht.
Ich ging zur Bibliothek in Holborn, die alte Times -Ausgaben aufbewahrte, und suchte den Nachruf heraus. Erst überflog ich Idiotin ihn mechanisch auf der Suche nach meinem Namen, dann fing ich noch einmal von vorn an. Ein ganzes Leben in wenigen Spalten, und nicht einmal ein Foto. Die Dragon School in Oxford, dann Marlborough, Balliol, die Guards, Teilnahme am Feldzug in Nordafrika, eine rätselhafte Lücke, dann die SOE , wie von Jeremy [79] berichtet, und ab 1948 vier Jahre beim Geheimdienst. Wie wenig mich doch Tonys Kriegs- und
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