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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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meinem möblierten Zimmer war es langweilig, und ich war froh, abends auch mal etwas anderes zu tun als lesen. Eines Abends, Shirley und ich kannten uns da schon besser, sprachen wir von unseren Traummännern. Sie beschrieb mir ihr Ideal: introspektiv und knochig, etwas über einsachtzig, Jeans, schwarzes T-Shirt, kurze Haare, hohle Wangen, eine Gitarre um den Hals. Von diesem Archetyp sahen wir in den Pubs zwischen Canvey Island und Shepherd’s Bush Dutzende Versionen. Wir hörten Bees Make Honey (meine Lieblingsband), Roogalator (ihre) – und Dr. Feelgood, Ducks Deluxe, Kilburn and the High Roads. Es sah mir gar nicht ähnlich, mit einem halben Pint in der Hand in einer verschwitzten Menge zu stehen, einen Pfeifton im Ohr von dem Krach. Es bereitete mir ein unschuldiges Vergnügen, mir vorzustellen, wie entsetzt alle diese Vertreter der Gegenkultur wären, wenn sie wüssten, dass wir der ultimative Feind aus der konservativen grauen Welt des MI 5 waren. Laurel und Hardy, der neue Sturmtrupp der inneren Sicherheit.

[74] 4
    Gegen Ende des Winters 1973 bekam ich einen Brief, den meine Mutter an mich weitergeleitet hatte. Mein alter Freund Jeremy Mott hatte ihn geschrieben. Er war immer noch in Edinburgh und zufrieden mit dem Fortschritt seiner Doktorarbeit und seinem neuen Leben voller halb-heimlicher Affären, die alle, wie er schrieb, ohne viel Ärger oder Reue endeten. Ich las den Brief eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit, als es mir ausnahmsweise einmal gelungen war, mich durch den brechend vollen U-Bahn-Wagen zu kämpfen und einen Sitzplatz zu ergattern. Der entscheidende Absatz begann in der Mitte der zweiten Seite. Für Jeremy war das vermutlich bloß ein wenig trauriger Klatsch und Tratsch.
    Du erinnerst dich doch noch an Tony Canning, meinen Tutor? Wir waren einmal bei ihm zum Tee. Letzten September hat er sich von Frieda getrennt, seiner Frau, nach über dreißig Jahren Ehe. Offenbar ohne jede Erklärung. Am College gab es Gerüchte über eine jüngere Frau, mit der er sich in seinem Cottage in Suffolk getroffen haben soll. Aber das war nicht der Grund. Angeblich hat er die jüngere auch abserviert. Hat mir alles ein Freund letzten Monat geschrieben, und der wiederum hat es vom [75] Meister höchstpersönlich. Das alles war am College ein offenes Geheimnis, aber niemand ist auf die Idee gekommen, es mir zu erzählen: Canning war krank. Warum hat er nichts gesagt? Es hatte ihn ganz übel erwischt, unheilbar. Im Oktober hat er am College gekündigt und sich auf eine Insel in der Ostsee verzogen, wo er ein kleines Haus mietete. Versorgt wurde er von einer Frau aus der Gegend, die vielleicht etwas mehr als nur seine Haushälterin war. Als es mit ihm zu Ende ging, brachte man ihn in ein kleines Krankenhaus auf einer anderen Insel. Sein Sohn besuchte ihn dort, Frieda auch. Ich nehme an, Du hast den Nachruf in der Times im Februar nicht gesehen. Sonst hättest Du Dich bestimmt bei mir gemeldet. Ich wusste nicht, dass er gegen Kriegsende bei der SOE war. Ein richtiger Held, nachts mit dem Fallschirm über Bulgarien abgesprungen, in einen Hinterhalt geraten, schwere Brustverletzung. In den späten vierziger Jahren dann vier Jahre beim MI 5. Die Generation unserer Väter – ihr Leben war so viel sinnvoller als unseres, oder? Tony war ungeheuer gut zu mir. Wenn mir bloß jemand Bescheid gesagt hätte. Dann hätte ich ihm wenigstens schreiben können. Willst Du nicht kommen und mich aufheitern? Neben der Küche ist ein nettes kleines Gästezimmer. Aber das habe ich wohl schon erwähnt.
    Warum hat er nichts gesagt? Krebs. Die frühen Siebziger waren die letzten Ausläufer einer Zeit, als man bei diesem Wort automatisch die Stimme senkte. Krebs galt als Schande – für den, der daran erkrankte, wohlgemerkt –, als ein Versagen, etwas Schmähliches und Schmutziges, ein Makel [76] der Persönlichkeit, nicht des Leibes. Damals hat es mir wohl eingeleuchtet, Tonys Bedürfnis, sich ohne Erklärung zu verkriechen, mit seinem schrecklichen Geheimnis an einem kalten Meer zu überwintern. Die Dünen seiner Kindheit, eisiger Wind, baumlose Sümpfe, und Tony, der in seiner Filzjacke über den menschenleeren Strand wandert mit seiner Scham, seinem schlimmen Geheimnis und dem immer häufigeren Drang, sich wieder hinzulegen. Müdigkeit, die heranbrandet wie die Flut. Natürlich musste er allein sein. Das habe ich damals bestimmt nicht in Frage gestellt. Was mich beeindruckte und schockierte, war sein planmäßiges Vorgehen. Mir

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