Honig
tiefgreifend sein, hatte aber keinem von uns das gesellschaftliche Gespür genommen. Binnen einer Minute, nein, schon nach Shirleys ersten drei Worten wussten wir, dass sie aus bescheidenen Verhältnissen kam. Ihr Vater hatte ein Betten- und Sofageschäft in Ilford, Bedworld hieß der Laden; sie hatte eine örtliche Gesamtschule besucht und in Nottingham studiert. Sie war die Erste in ihrer Familie, die über das sechzehnte Lebensjahr hinaus zur Schule gegangen war. Mag sein, dass der MI 5 eine offenere Rekrutierungspolitik demonstrieren wollte, Shirley war aber auch außergewöhnlich begabt: Sie tippte doppelt so schnell wie die besten von uns, ihr Gedächtnis – für Gesichter, Akten, Gespräche, Verfahrensweisen – war genauer als unseres, sie stellte furchtlose, interessante Fragen. Es war ein Zeichen der Zeit, dass eine große Minderheit unter uns Mädchen sie bewunderte – ihr leichter Cockney-Akzent hatte modernen Glamour, die Art, wie sie sprach und sich bewegte, erinnerte uns an Twiggy oder Keith Richards oder Bobby Moore. Tatsächlich war ihr Bruder Fußballprofi und spielte in der Ersatzmannschaft der Wolverhampton Wanderers. Dieser Club, so erfuhren wir, hatte in diesem Jahr das Finale des brandneuen UEFA -Cups erreicht. Shirley war exotisch, sie stand für eine selbstbewusste neue Welt.
Manche Mädchen sahen auf Shirley herab, dabei war keine von uns so weltgewandt und cool wie sie. Viele unseres Jahrgangs hätte man Queen Elizabeth bei Hof als Debütantinnen präsentieren können, wäre dieser Brauch nicht [69] fünfzehn Jahre zuvor abgeschafft worden. Einige waren Töchter oder Nichten von aktiven oder pensionierten Beamten. Zwei Drittel von uns hatten ihren Abschluss an den alten Eliteuniversitäten gemacht. Wir sprachen im selben Tonfall, wussten uns in der Gesellschaft zu bewegen und hätten uns auf jeder Party des Landadels sehen lassen können. Aber in unserem Auftreten lag immer etwas Entschuldigendes, ein höflicher Impuls, sich unterzuordnen, besonders wenn ein Vorgesetzter, Typ Ex-Kolonialbeamter, unseren düsteren Raum betrat. Damals waren die meisten von uns (ich selbst natürlich ausgenommen) Meisterinnen des gesenkten Blicks und des fügsamen Halblächelns. Nicht wenige der Neuen waren unterschwellig auf der Suche nach einem anständigen Ehemann aus guten Verhältnissen, auch wenn sie das nicht zugegeben hätten.
Shirley hingegen war unfügsam und laut und schaute, da sie nicht in Heiratslaune war, jedem in die Augen. Sie hatte das Talent oder die Schwäche, hemmungslos über ihre eigenen Geschichten zu lachen – nicht, dachte ich, weil sie sich selber komisch fand, sondern weil das Leben ihrer Ansicht nach gefeiert werden musste, und zwar am besten gemeinsam mit anderen. Laute Zeitgenossen, insbesondere laute Frauen, machen sich immer Feinde, und es gab ein oder zwei Mädchen, die Shirley aus tiefstem Herzen verachteten, aber die meisten von uns eroberte sie im Sturm, vor allem mich. Vielleicht half es, dass sie keine bedrohliche Schönheit war. Sie war mollig, hatte mindestens dreißig Pfund Übergewicht, Größe zweiundvierzig (ich trug sechsunddreißig), und meinte doch tatsächlich, das richtige Wort für ihre Figur sei »gertenschlank«. Dann lachte sie. Gerettet, ja [70] sogar reizvoll wurde ihr vielleicht etwas plumpes Gesicht durch ihr lebhaftes Minenspiel. Ihr größter Vorzug war allerdings die ziemlich ungewöhnliche Kombination aus naturgelocktem schwarzem Haar, blassen Sommersprossen auf dem Nasenrücken und graublauen Augen. Und ihr schiefes, rechts absinkendes Lächeln, für das ich nicht das richtige Wort finde. Irgendwas zwischen kess und schneidig. Obschon von Haus aus weniger privilegiert, war sie weiter herumgekommen als die meisten von uns. Nach der Uni trampte sie allein nach Istanbul, verkaufte ihr Blut, kaufte ein Motorrad, brach sich Bein, Schulter und Ellenbogen, verliebte sich in einen syrischen Arzt, hatte eine Abtreibung und fuhr an Bord einer Privatyacht von Anatolien nach England zurück, wofür sie als Gegenleistung nur ein wenig zu kochen brauchte – alles innerhalb eines Jahres.
Doch für mich war keins dieser Abenteuer so exotisch wie das Notizbuch, das sie immer bei sich hatte, ein kindisches Büchlein mit rosa Plastikeinband und einem kurzen Bleistift in einer Schlaufe am Rücken. Anfangs wollte sie nicht verraten, was sie da eintrug, aber eines Abends in einem Pub in Muswell Hill vertraute sie mir an, sie notiere sich »die klugen oder
Weitere Kostenlose Bücher