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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Shakespeare, Robert Herrick, Christina Rossetti, Wilfred Owen und W. H. Auden zitiert – zum Ende kommt, kann das Publikum in den Bänken kaum an sich halten. Mit sonorer Stimme, die sich voller Weisheit und Trauer auf das Kirchenschiff niedersenkt, stimmt der Vikar ein Gebet an, und die Gemeinde fällt ein. Als der Bischof, der so angestrengt [151] nach vorn gebeugt gelauscht hat, dass er einen roten Kopf hat, sich schließlich aufrichtet, strahlt er, und all die pensionierten Colonels und Pferdezüchter und der ehemalige Kapitän der Polomannschaft und ihre Frauen strahlen ebenfalls, und strahlen erneut, als sie einer nach dem andern aus der Kirche kommen und Edmund die Hand schütteln. Der Bischof will seine Hand gar nicht mehr loslassen, überschüttet ihn mit Lob und gibt zum Glück sein Bedauern darüber kund, dass er noch einen Termin hat und nicht zum Kaffee bleiben kann. Der Chorherr schlurft wortlos von dannen, und bald strebt jedermann zum Sonntagsessen nach Hause, und Edmund tänzelt im Hochgefühl seines Triumphs durch den Friedhof zum Pfarrhaus zurück, um seinem Bruder alles zu erzählen.
    Hier, auf der achtzehnten von neununddreißig Seiten, gab es vor dem nächsten Absatz einige Leerzeilen, mit einem einzigen Sternchen darin. Ich starrte es an, damit mein Blick nicht weiterwanderte und mir verriet, was der Autor als Nächstes im Sinn hatte. Romantisch gestimmt, wie ich war, hoffte ich, Edmunds hochtrabendes Plädoyer für die Liebe werde ihn am Ende zu Frau und Kindern zurückführen – sehr unwahrscheinlich in einer modernen Erzählung. Oder er sei über seiner Predigt selbst wieder zum Christen geworden. Oder Giles könnte vom Glauben abfallen, wenn er hörte, wie seine Gemeinde sich von der raffinierten Rhetorik eines Atheisten mitreißen ließ. Reizvoll erschien mir auch die Möglichkeit, dem Bischof nach Hause zu folgen, wo er abends in der dampfenden Badewanne über das Gehörte nachdachte. Ich wollte nämlich nicht, dass mein [152] Vater, der Bischof, einfach so aus der Geschichte verschwand. Das sakrale Dekor bezauberte mich – die normannische Kirche, die Gerüche nach Messingpolitur, Lavendelwachs, altem Gemäuer und Staub, die Haley beschwor, die schwarzen, weißen und roten Glockenseile hinter dem Taufbecken mit dem geborstenen Eichendeckel, der nur noch von Nieten und Eisenbändern zusammengehalten wurde, und vor allem das Pfarrhaus mit dem unaufgeräumten Flur hinter der Küche, wo Edmund seinen Koffer auf dem Schachbrettlinoleum abstellt, und das Kinderzimmer oben, genau wie bei uns. Ich bekam ein wenig Heimweh. Ich wünschte, Haley wäre ins Bad gegangen oder hätte Edmund dorthin geschickt, damit er das alles vor sich sähe: die hüfthohe, hellblau gestrichene Holzvertäfelung und die gewaltige, fest auf vier rostigen Löwenfüßen stehende Wanne mit den blaugrünen Algenflecken unter den Wasserhähnen. Und auf die Toilette, an deren Spülkette ein verblasstes Badeentchen hing. Primitivere Leser als mich konnte es nicht geben. Ich wollte nur meine eigene Welt – und mich selbst darin – in kunstvoller Gestalt und zugänglicher Form dargeboten bekommen.
    Aus ähnlichen Gründen war mir der sanftmütige Giles eigentlich sympathischer, aber es war Edmund, den ich wollte. Wollte? Als Reisegefährten. Ich wollte, dass Haley mir Edmunds Gedankenwelt zeigte, sie für mich bloßlegte, sie mir erklärte, von Mann zu Frau. Edmund erinnerte mich an Max, an Jeremy. Und vor allem an Tony. Diese klugen, amoralischen, erfindungsreichen, zerstörerischen Männer, zielstrebig, egoistisch, gefühlskalt, unverfroren attraktiv. Ich glaube, die waren mir lieber als die Liebe Jesu. [153] Männer wie sie waren unentbehrlich, und nicht nur für mich. Ohne sie würden wir immer noch in Lehmhütten hausen und auf die Erfindung des Rades warten. Die Dreifelderwirtschaft wäre niemals eingeführt worden. Was für unzulässige Gedanken zu einer Zeit, da gerade die zweite Welle der Frauenbewegung heranrollte! Ich starrte auf das Sternchen hinab. Haley war mir unter die Haut gegangen, und ich fragte mich, ob er auch einer dieser unentbehrlichen Männer war. Er quälte mich, er machte mich heimwehkrank und neugierig, alles auf einmal. Bis jetzt hatte ich mit meinem Bleistift noch kein einziges Wort angestrichen. Es war nicht fair, dass so ein Mistkerl wie Edmund eine brillante, zynische Ansprache hielt und dafür auch noch gelobt wurde, aber es war richtig, es hatte etwas Wahrhaftiges. Wie er da beschwingt um

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