Honig
Schoß, gelbbraun, mit amtlichem Wasserzeichen und mit Kordelschlaufen verschlossen. Was für ein Regelverstoß, und welch ein Privileg, eine Akte mit nach Hause nehmen zu dürfen. Akten sind heilig, hatte man uns zu Beginn unserer Ausbildung eingehämmert. Nichts durfte aus einer Akte herausgenommen werden, keine das Gebäude verlassen. Benjamin hatte mich zum Haupteingang begleitet und die Mappe am Empfang vorzeigen und öffnen müssen zum Beweis, dass es sich nicht um eine Personenakte aus der Registratur handelte, obwohl sie dieselbe Farbe hatte. Das seien lediglich Hintergrundinformationen, hatte er dem Diensthabenden der Abteilung P erklärt. Doch an diesem Abend nannte ich sie zu meinem Privatvergnügen »die Haley-Akte«.
Diese ersten Stunden, die ich mit der Lektüre seiner Prosa verbrachte, zählen zu meinen glücklichsten beim MI 5. Alle meine Bedürfnisse, bis auf die sexuellen, wurden auf [146] einen Schlag befriedigt: Ich las, noch dazu für einen höheren Zweck, der mich stolz auf meinen Beruf machte, und außerdem würde ich den Autor bald persönlich kennenlernen. Hatte ich Zweifel oder moralische Bedenken? Zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich war glücklich, dass man mich ausgewählt hatte. Ich fühlte mich der Aufgabe gewachsen und hoffte dabei, Lob aus den höheren Etagen ernten zu können – ich war ein Mädchen, das gelobt werden wollte. Auf Nachfrage hätte ich geantwortet, wir seien bloß eine Art geheimer Arts Council. Und die Fördermöglichkeiten, die wir boten, waren genauso gut wie die jeder anderen Kunststiftung.
Die Erzählung war im Winter 1970 in der Kenyon Review erschienen; ich hatte die Ausgabe vor mir, der Kassenzettel einer Fachbuchhandlung in Longacre, Covent Garden, steckte noch drin. In der Erzählung ging es um einen Professor für mittelalterliche Sozialgeschichte mit dem beeindruckenden Namen Edmund Alfredus, der, nach über zehn Jahren im Bezirksrat eines schwierigen Ost-Londoner Stadtteils, mit Mitte vierzig für Labour ins Parlament einzieht. Er gehört zum linken Flügel seiner Partei und gilt als Unruhestifter, intellektueller Dandy, chronischer Ehebrecher und brillanter Redner mit guten Beziehungen zu einflussreichen Leuten in der U-Bahn-Führer-Gewerkschaft. Er hat einen eineiigen, charakterlich weniger auffälligen Zwillingsbruder, Giles, der als Vikar der anglikanischen Kirche ein angenehmes Leben im ländlichen West Sussex führt, in Radfahrdistanz von Petworth House, wo Turner einst gemalt hat. Seine kleine, ziemlich überalterte Gemeinde versammelt sich in einer pränormannischen Kirche, [147] an deren verputzten Mauern die Palimpseste angelsächsischer Wandgemälde, die Christi Leiden darstellten, von einem Getümmel aufsteigender Engel überlagert wurden, deren bäurische Anmut und Schlichtheit für Giles von Mysterien kündete, zu denen das industrielle, wissenschaftliche Zeitalter keinen Zugang mehr hatte.
Diesen Zugang hat auch Edmund nicht, der als strenger Atheist Giles’ behagliches Leben und seine obskuren religiösen Überzeugungen insgeheim verachtet. Dem Vikar wiederum ist es peinlich, dass Edmund seine pubertären bolschewistischen Ansichten noch immer nicht abgelegt hat. Aber die Brüder mögen sich und vermeiden in der Regel religiöse oder politische Diskussionen. Als sie acht waren, starb ihre Mutter an Brustkrebs, worauf ihr gefühlskalter Vater sie in ein Internat steckte, eine Zeit, in der sie sich gegenseitig stützten und die sie fürs Leben zusammenschweißte.
Beide Männer haben mit Ende zwanzig geheiratet, beide haben Kinder. Aber ein Jahr nachdem Edmund ins Unterhaus gewählt wird, bringt eine weitere Affäre für seine Frau Molly das Fass zum Überlaufen, worauf sie ihn vor die Tür setzt. Vor diesem häuslichen Debakel, vor dem Scheidungsverfahren und dem aufkeimenden Interesse der Presse flüchtet Edmund für die Dauer eines verlängerten Wochenendes nach Sussex zu seinem Bruder, und hier im Pfarrhaus beginnt die eigentliche Geschichte. Auch Giles ist in einer Notlage. Bei seiner Predigt am Sonntag wird der Bischof von Ch– zugegen sein, der als notorisch reizbar und intolerant gilt. (Natürlich stellte ich mir meinen Vater in dieser Rolle vor.) Seine Exzellenz wird wenig erfreut sein zu [148] vernehmen, dass der Vikar, den er begutachten will, sich eine üble Grippe zugezogen hat und eine Kehlkopfentzündung dazu.
Bei seiner Ankunft wird Edmund von der Frau des Vikars, seiner Schwägerin, sofort in das alte Kinderzimmer im
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