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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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weiß sie: Obwohl es ein steiniger Weg gewesen war und sie viel erdulden musste, so brachte sie ihren Mann dem Herrn Jesus immer näher, und diese mit Abstand größte Leistung ihres Lebens verdankte sich einzig und allein der erlösenden und beharrlichen Macht der Liebe.
    Das war’s. Erst auf der letzten Seite fiel mir auf, dass ich den Titel der Erzählung übersehen hatte. Das ist Liebe . Er schien mir zu souverän, zu erfahren, dieser Siebenund [159] zwanzigjährige, der meine ahnungslose Zielperson war. Der Mann wusste, was es hieß, eine zerstörerische Frau zu lieben, die unter heftigen Stimmungsschwankungen litt, er hatte den Eichendeckel auf einem alten Taufstein bemerkt, er wusste, dass die Reichen in ihren Wassergräben Karpfen hielten und die Geknechteten ihre Habseligkeiten in Supermarkt-Einkaufswagen mit sich führten – sowohl Supermärkte als auch Einkaufswagen gab es erst seit kurzem in Großbritannien. Wenn Jeans mutierte Genitalien keine Erfindung, sondern eine Erinnerung waren, fühlte ich mich bereits herabgesetzt, in den Schatten gestellt. War ich etwa ein wenig eifersüchtig auf seine Affäre?
    Ich legte die Mappe weg, zu müde, um noch eine Geschichte zu lesen. Ich war auf eine sonderbare Form von mutwilligem erzählerischem Sadismus gestoßen. Alfredus mochte diese Verengung seines Lebenskreises zwar verdient haben, aber Haley hatte ihn regelrecht plattgemacht. Menschenfeindlichkeit oder Selbsthass – waren das zwei so unterschiedliche Dinge? – mussten in seiner Natur liegen. Ich entdeckte, dass es das Leseerlebnis verzerrt, wenn man den Autor kennt oder demnächst kennenlernen wird. Ich war in den Kopf eines Fremden hineingekrochen. Platte Neugier ließ mich rätseln, ob nicht jeder Satz eine geheime Absicht verriet oder verleugnete oder maskierte. Ich fühlte mich Tom Haley näher, als wenn er in den vergangenen neun Monaten mein Kollege in der Registratur gewesen wäre. Aber bei aller Vertrautheit, die ich empfand, war schwer zu ermessen, was genau ich eigentlich über ihn wusste. Ich brauchte ein Werkzeug, ein Messinstrument, das erzählerische Äquivalent zu einer Kompassnadel, um die Distanz [160] zwischen Haley und Edmund Alfredus bestimmen zu können. Womöglich hatte der Autor sich in dieser Erzählung nur seine eigenen Dämonen vom Leib gehalten. Vielleicht verkörperte Alfredus – der sich letztlich doch als sehr entbehrlicher Mann erwiesen hatte – die Art Mensch, die Haley auf keinen Fall werden wollte. Oder er bestrafte Alfredus aus moralisch-sittlichen Gründen für seine Untreue und seine Anmaßung, in der Rolle eines Kirchenmanns aufzutreten. Haley konnte ein Puritaner sein, ein religiöser Puritaner, er konnte aber auch ein Mann mit vielen Ängsten sein. Wobei Puritanismus und Angst womöglich nur zwei Aspekte ein und derselben Charakterschwäche waren. Statt in Cambridge drei Jahre als schlechte Mathematikstudentin zu vergeuden, hätte ich vielleicht besser Englisch studiert und richtig lesen gelernt. Aber hätte ich dabei auch gelernt, T. H. Haley zu lesen?

[161] 9
    Am nächsten Abend war ich mit Shirley zu einem Konzert von Bees Make Honey im Hope and Anchor in Islington verabredet. Ich kam eine halbe Stunde zu spät. Sie saß allein an der Bar, rauchend über ihr Notizbuch gebeugt, noch zwei Fingerbreit Bier in ihrem Pint-Glas. Draußen war es warm, aber es hatte stark geregnet, und feuchte Jeans und nasse Haare verbreiteten in dem Pub einen Geruch wie in einem Hundezwinger. Verstärkerlämpchen glühten in einer Ecke, wo ein einsamer Roadie die Anlage aufbaute. Kaum mehr als zwei Dutzend Leute waren da, darunter wahrscheinlich die Band und ihre Kumpels. In jenen Tagen umarmten sich, zumindest in meinen Kreisen, nicht einmal Frauen zur Begrüßung. Ich glitt auf den Barhocker neben Shirley und bestellte uns etwas zu trinken. Damals war es noch alles andere als selbstverständlich für ein Mädchen, einfach so in den Pub zu gehen und sich an die Bar zu setzen wie ein Mann. Im Hope and Anchor und einer Handvoll anderer Lokale störte sich niemand daran. Die Revolution hatte den Siegeszug angetreten, man kam damit durch. Wir taten so, als sei das völlig normal, aber es war immer noch ein besonderer Kick. Anderswo im Königreich hätte man uns für Huren gehalten oder uns so behandelt.
    Auch wenn wir unsere Mittagspausen weiterhin [162] zusammen verbrachten, war zwischen uns immer noch ein wenig Sand im Getriebe – Rückstände von jener kleinen

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