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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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die Gräber herumtänzelt, auf dem Rückweg zu seinem Bruder, dem er gleich von seinem Triumph erzählen wird, ließ auf Hochmut schließen. Damit gab Haley zu verstehen, dass Strafe oder sogar Fall unausweichlich waren. Ich wollte das nicht. Tony war schon bestraft worden, und das reichte mir. Schriftsteller waren ihren Lesern gegenüber zu Fürsorge und Barmherzigkeit verpflichtet. Das Sternchen in der Kenyon Review begann sich unter meinem starren Blick zu drehen. Ich blinzelte, bis es anhielt, und las weiter.
    Ich wäre nie darauf gekommen, dass Haley mitten in der Geschichte noch eine weitere Hauptfigur einführen würde. Aber sie war, von Edmund unbemerkt, schon während der ganzen Messe da gewesen, hatte am Ende der dritten Bankreihe gesessen, direkt an der Wand neben den aufgestapelten Gesangbüchern. Ihr Name: Jean Alise. Der Leser [154] erfährt bald, dass sie eine fünfunddreißigjährige Witwe aus dem Ort ist, ziemlich wohlhabend und sehr religiös, besonders seit ihr Mann bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist. Früher einmal ist sie in psychiatrischer Behandlung gewesen, und natürlich ist sie schön. Edmunds Predigt wühlt sie bis ins Innerste auf. Sie liebt die Botschaft und begreift ihre Wahrheit, sie liebt die Poesie und fühlt sich stark zu dem Mann hingezogen, der sie vorträgt. Sie bleibt die ganze Nacht auf und fragt sich, was sie tun soll. Ohne es zu wollen, hat sie sich verliebt, und es steht fest, sie muss ins Pfarrhaus gehen und es ihm sagen. Sie kann nicht anders, sie ist bereit, die Ehe des Pfarrers zu zerstören.
    Am nächsten Morgen um neun klingelt sie beim Pfarrhaus, und Giles kommt im Schlafrock an die Tür. Er befindet sich auf dem Weg der Besserung, ist aber immer noch blass und zittrig. Zu meiner Erleichterung erkennt Jean sofort, dass dieser Mann nicht der ist, auf den sie es abgesehen hat. Sie findet heraus, dass es einen Bruder gibt, und reist ihm hinterher nach London zu der Adresse, die Giles ihr arglos genannt hat: eine kleine möblierte Wohnung in Chalk Farm, wo Edmund sich vorübergehend einquartiert hat, bis die Scheidung durch ist.
    In dieser angespannten Situation ist er nicht in der Lage, einer schönen Frau zu widerstehen, die offenbar darauf brennt, ihm alles zu geben, was er will. Sie bleibt zwei Wochen bei ihm, und die meiste Zeit verbringen sie im Bett – Haley schilderte das intime Treiben mit einer Detailfreude, die ich problematisch fand. Ihre Klitoris ist monströs, groß wie der Penis eines vorpubertären Knaben. Noch nie hat er eine so großzügige Geliebte gehabt. Jean kommt schon [155] bald zu dem Schluss, dass sie den Rest ihres Lebens mit Edmund verbringen wird. Als sie erfährt, dass er Atheist ist, sieht sie sich vor die Aufgabe gestellt, ihn zum Lichte Gottes zu führen. Wohlweislich sagt sie ihm nichts davon und beschließt abzuwarten, bis die Zeit reif ist. Den blasphemischen Auftritt im Gewand seines Bruders verzeiht sie ihm schon nach wenigen Tagen.
    Edmund liest unterdessen heimlich immer wieder einen Brief von Molly, der durchblicken lässt, dass sie einer Versöhnung nicht abgeneigt ist. Sie liebt ihn, und wenn er nur mit seinen Affären aufhören könnte, wäre eine Rückkehr in die Familie vielleicht möglich. Die Kinder vermissen ihn sehr. Es wird schwer für ihn werden, sich da herauszuwinden, aber er weiß, was er zu tun hat. Da trifft es sich günstig, dass Jean kurz nach Sussex muss, um ihre Pferde und Hunde zu versorgen und andere Dinge in ihrem Haus zu erledigen, das übrigens von einem Wassergraben umgeben ist. Edmund fährt zu seiner Familie und verbringt eine Stunde mit seiner Frau. Das Gespräch läuft gut, sie sieht hinreißend aus, er macht Versprechungen, die er halten zu können glaubt. Die Kinder kommen aus der Schule, und sie trinken zusammen Tee. Wie in alten Zeiten.
    Als er tags darauf mit Jean bei einem üppigen Frühstück in einem Schnellrestaurant sitzt und ihr eröffnet, er werde zu seiner Frau zurückkehren, löst das einen beängstigenden psychotischen Schub aus. Bis dahin war ihm nicht klar, wie fragil ihr inneres Gleichgewicht ist. Sie zerschlägt seinen Teller und rennt kreischend aus dem Lokal, auf die Straße. Er beschließt, ihr nicht nachzulaufen. Stattdessen eilt er in seine Wohnung, packt seine Sachen, lässt einen, wie er [156] glaubt, freundlichen Brief für Jean zurück und zieht wieder bei Molly ein. Das Glück der Versöhnung währt drei Tage, dann kehrt Jean mit aller Macht in sein Leben

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