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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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oberen Stockwerk geführt, wo Giles in Quarantäne liegt. Auch mit Mitte vierzig noch, und trotz aller ihrer Differenzen, sitzt den Alfredus-Zwillingen der Schalk im Nacken. Die beiden – der schwitzende Giles kann sich nur krächzend verständlich machen – kommen nach einer halbstündigen Besprechung zu einem Entschluss. Für Edmund bedeutet es eine willkommene Ablenkung von seinen Eheproblemen, den ganzen nächsten Tag, es ist der Samstag, die Liturgie und Gottesdienstordnung auswendig zu lernen und über seine Predigt nachzudenken. Das Thema, dem Bischof im Voraus mitgeteilt, ist aus dem ersten Korintherbrief, Kapitel 13, die berühmten Verse über Glaube, Hoffnung und Liebe, wo es heißt: »… aber die Liebe ist die größte unter ihnen.« Als Mediävist ist Edmund bibelfest. Und über die Liebe spricht er ohnehin gern. Am Sonntagmorgen legt er das Chorhemd seines Bruders an, kämmt sein Haar zu Giles’ akkuratem Seitenscheitel, schlüpft aus dem Haus und schreitet über den Friedhof zur Kirche.
    Die Nachricht vom Besuch des Bischofs hatte die Zahl der Kirchgänger auf fast vierzig anschwellen lassen. Gebete und Lieder wechseln einander in der gewohnten Reihenfolge ab. Alles läuft wie am Schnürchen. Ein uralter Chorherr, sein Blick von Osteoporose zu Boden gerungen, assistiert beim Gottesdienst, ohne zu merken, dass Giles Edmund ist. Im richtigen Augenblick erklimmt Edmund [149] die steinerne Kanzel. Selbst den betagten Stammgästen in den Bankreihen fällt auf, dass ihr sonst so leise sprechender Vikar einen ungewohnt selbstbewussten, geradezu freimütigen Eindruck macht, zweifellos will er den hohen Besuch beeindrucken. Aus dem Korintherbrief ist bereits gelesen worden, Edmund wiederholt nun zunächst einige Passagen daraus. Er intoniert die Sätze so geschliffen wie ein Schauspieler – allerdings hätte sich der eine oder andere Kirchgänger (fügt Haley nebenbei hinzu), wäre er jemals im Theater gewesen, durchaus an eine Parodie des berühmten Sir Laurence Olivier erinnert fühlen können. In der fast leeren Kirche hallen Edmunds Worte wider, genüsslich betont er die vielen »L«: Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der Wahrheit…
    Dann hebt er zu einer glutvollen Eloge auf die Liebe an. Die Scham wegen seiner jüngsten Seitensprünge, die Sorge um seine Frau und die zwei Kinder, die Erinnerung an all die wunderbaren Frauen, die er gekannt hat – all dies befeuert ihn, ebenso wie das pure Vergnügen, das er als guter Redner bei dem Auftritt empfindet. Die großzügige Akustik und seine erhöhte Position oben auf der Kanzel tun das Ihre, er schwingt sich auf zu ungeahnten rhetorischen Finessen. Unter Einsatz derselben Argumentationstechniken, mit denen er die U-Bahn-Führer innerhalb von drei Wochen dreimal dazu gebracht hat, für einen Tag die Arbeit niederzulegen, führt er den Nachweis, dass Liebe, wie wir sie [150] heutzutage kennen und feiern, eine christliche Erfindung ist. In der rauhen eisenzeitlichen Welt des Alten Testaments herrschten noch eine mitleidlose Moral und ein eifernder, gnadenloser Gott, für den Rache, Macht, Unterwerfung, Völkermord und Vergewaltigung die höchsten Werte waren. Hier sahen einige den Bischof trocken schlucken.
    Vor diesem Hintergrund, sagt Edmund, wird deutlich, wie radikal die neue Religion war, indem sie die Liebe in den Mittelpunkt stellte. Zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte der Menschheit setzte man auf ein vollkommen anderes Prinzip der gesellschaftlichen Organisation. Eine neue Zivilisation begann. So sehr die Praxis hinter diesen Idealen auch zurückbleiben mag, es ist doch eine neue Richtung eingeschlagen worden. Jesu Programm ist unwiderstehlich und unwiderruflich. Selbst Ungläubige müssen damit leben. Denn Liebe steht nicht allein, kann nicht allein stehen, sie zieht dahin wie ein strahlender Komet und bringt andere leuchtende Güter mit sich – Vergebung, Güte, Toleranz, Fairness, Umgänglichkeit und Freundschaft, untrennbar verbunden mit der Liebe, die den Kern von Jesu Botschaft bildet.
    In einer anglikanischen Kirche in West Sussex gehört es sich nicht, nach einer Predigt zu applaudieren. Doch als Edmund – er hat inzwischen aus dem Gedächtnis

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