Honky Tonk Pirates - Das verheißene Land - Band 1
bleib hier! Wir sind sonst allein.«
Da hielt der Mann inne, wandte sich um und ging in die Hocke.
»Mama ist tot und wenn du auch …«
»Psst«, lächelte der Vater und legte jedem der Zwillingsmädchen, die rothaarig gelockt und mit abstehenden Ohren ganz sein Ebenbild waren, einen Zeigefinger auf den Mund. »Aber ich werde nicht sterben, das verspreche ich euch. Und solange ich fort bin, wird euch das hier beschützen.«
Er nahm das Lederband mit dem bunten Beutel vom Hals und legte ihn in ihre Hände. »Der ist von einer Insel, weit weg in der Südsee, wo es noch Elfen und Zauberer gibt und wo alles verkehrt herum ist.«
»Verkehrt herum?«, fragten die Zwillinge.
»Ja, da hängen die Menschen mit den Köpfen nach unten und den Füßen nach oben in den Himmel hinein und dort sind die, die nichts haben und schwach sind die Starken.« Der Vater schloss die Hände der Kinder fest um das Amulett, schluckte und riss sich zusammen: »Und jetzt holen wir uns die Kartoffeln. Kommt.«
»Dort, wo die Schwachen die Starken sind?«, flüsterten die plötzlich ganz furchtlosen Mädchen, folgten dem Vater und entschwanden aus Wills Blickfeld im Gewühl der verzweifelten Menschen, die sich Richtung Eulenfels schoben.
Der sah amüsiert zu, wie sich bei den Ärmsten der Armen Väter aus den Umarmungen ihrer Kinder befreiten und Frauen, die keine Männer mehr hatten, ihre Rocksäume aufrissen, um ihr letztes Erspartes zu geben. Doch manch anderen blieb keine andere Wahl, als die Knollen zu stehlen. Drei, vier, nein, fünf zählte Will, die Glück dabei hatten, dann zog der Geheime Minister eine mit Elfenbein besetzte Pistole aus dem Gürtel und schoss in die Luft. Er hatte den sechsten, einen zwölfjährigen Jungen, beim Diebstahl erwischt, und während der totenblasse Kerl von den Soldaten in Ketten gelegt und abgeführt wurde, verkündete Eulenfels:
»Was ist nur los mit den Kindern aus Preußen? Haben sie keinen Respekt? Wir müssen doch alle zusammenhalten wie Pech und Schwefel.Wir sind ein Volk, eine große Familie. Und wer die Familie bestiehlt, hat es nicht mehr verdient, weiterzuleben. Der baumelt am Galgen, sobald die Sonne aufgeht.«
Will schloss die Augen. Er ballte die Fäuste und er spürte die Ohnmacht, die sich über ihn legte. Über ihn und die anderen Menschen um ihn herum. Selbst die Soldaten waren geschockt.
Die Stille, die auf dem Platz lag, erstickte jedes Geräusch. Doch dann siegte der Hunger und unter Eulenfels’ zufriedenem Lächeln nahm der Verkauf seinen ab sofort ungestörten Lauf. 487 Männer im Alter zwischen 16 und 70 Jahren verkauften ihr Leben für eine Handvoll Kartoffeln. Und die Groschen, Schmuckstücke und Uhren, mit denen die anderen zahlten, füllten bereits drei Säcke, als die letzte Kartoffel ihren Besitzer fand: eine alte Frau. Sie stand vor Will in der Reihe, und als der endlich drankam, hielten ihm die Soldaten nur ihre Musketen vor die Brust.
»Das war’s!«, blafften sie. »Mach, dass du wegkommst! Verschwindet jetzt alle!«, befahlen sie barsch, doch im Gegensatz zu den ängstlich zurückweichenden Menschen um ihn herum ließ Will sich nicht vertreiben.
»Ich habe drei Schwestern und zwei kranke Mütter. Die werden jetzt sterben. Und die fünfVäter auch. Ich bitte Euch! Erbarmt Euch. Sie haben ihre Arme und Beine für Preußen verloren.«
»Wie bitte?« Die Soldaten stutzten und wurden dann zornig. »Machst du dir einen Spaß mit uns?«
»Das würde ich nie!«, beeilte sich Will, sie zu beruhigen. »Denn elf meiner anderen zwei Dutzend Väter sind als brave Soldaten gefallen. So wie Ihr morgen fallen werdet, wenn Euch die Kanonen der Russen zerreißen.« Er lächelte mitleidig, doch die Soldaten hatten keinen Sinn für seinen Humor.
»Mach, dass du wegkommst! Sonst zerreißen wir dich!«
Sie spannten die Hähne ihrer Musketen und schüchterten Will damit ein.
»Aber ich hab einen Taler«, stammelte der ängstliche Junge. »Nein, ich hab davon zwei, und die sind aus Silber.«
Er schielte zu Eulenfels. Der kletterte gerade in seine silberne Sänfte.
»Wartet!«, rief er. »Eure gnädige Heiligkeit. Ich habe zwei Taler und ich zahle sie beide für Euer Hühnchen.«
Er zeigte mit dem Finger in die Sänfte hinein und lief auf sie zu. Dort nagten die beiden Damen, die den Minister begleiteten, gelangweilt an zwei fetten Hühnerkeulen.
»Halt! Untersteh dich!« Die Soldaten packten ihn und einer von ihnen hielt ihm die Steinschlosspistole gegen die Stirn. »Noch
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