Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
als ihm das jammervollste Klagen, das er jemals von einem Lebewesen gehört hatte, durch die Schädelknochen ins Hirn drang. Der Wehlaut schwoll in der Tonhöhe an und ab wie das Heulen einer Banshee, die dem Wahnsinn verfallen war. Scott konnte kaum den Schmerz ertragen, der dieser Stimme innewohnte.
Fisher kauerte sich auf Scotts Schulter zusammen, schlang ihm den Schweif um den Hals und zitterte ohne Unterlass. »Bliek!«
Scott begann zu rennen und hob gleichzeitig die Hand, um seinen Gefährten zu trösten. »Wo ist sie?«
Aleksandr wies nach oben. Scott blickte in den hohen Pfostenbaum, der dem Haus der Zivoniks am nächsten stand, und musterte die langen, genau senkrecht entspringenden Äste, die den Pfostenbaum von allen anderen Baumarten so einzigartig unterschieden. »Da oben.«
Scott musste sehr genau hinsehen, dann aber erblickte er weit oben und dicht am Stamm die Baumkatze. Sie saß auf den Hinterläufen wie ein altterranisches Frettchen, Kopf und Proportionen waren jedoch deutlich katzenhaft – wenn man von den sechs Gliedmaßen absah, wie sie auch der große, tödliche sphinxianische Hexapuma hatte, dem Baumkatzen in allem außer der Größe so sehr ähnelten. Die fremde Baumkatze war größer als Fisher, sie maß ohne den Greifschwanz, der ihre Länge verdoppelte, etwa siebzig Zentimeter. Für ihre Größe erschien sie allerdings viel zu dünn. Krank wirkte sie – oder verletzt. Wie Fisher hatte sie ein cremefarben-grau geschecktes Fell, doch selbst von weitem bemerkte Scott Schmutz und dunklere Flecken darin, die beunruhigend nach Blut aussahen.
»Fisher?«, murmelte er. Sein Gefährte zitterte heftig, und er versuchte, ihn zu beruhigen. »Ist sie verletzt? Wenn ich zu ihr hochklettern und mich um sie kümmern würde …«
Das unablässige Klagen, bei dem sich Scott die Härchen aufgestellt hatten, brach ab. Die fremde Baumkatze gab einen elenden Laut von sich, der durch die Entfernung sehr leise klang, dann kletterte sie zögernd am Baumstamm hinunter. Scotts Herz klopfte schneller. Am liebsten wäre er auf sie zugestürzt, aber er fürchtete, sie damit zu verscheuchen.
»Aleksandr«, sagte er leise, »ich glaube, es ist am besten, wenn Sie die Kinder ins Haus bringen. Wenn jemand die Baumkatze erschreckt, können wir ihr vielleicht nicht mehr helfen, und ich glaube, unsere Hilfe braucht sie sehr dringend.«
Aleksandr nickte und verzog grimmig den Mund. »Also los, Kinder. Und keine Widerworte!«
Irina Kisaevna blickte unwillkürlich Scott an. Aus ihren lebhaften blauen Augen sprach die Sorge. Von allen Menschen, die Scott noch aus der Zeit kannte, bevor er von Fisher adoptiert wurde, schien allein Irina zu erfassen, wie tief das Band zwischen ihm und dem bemerkenswerten Geschöpf wirklich war. Irina war Witwe, seit ihr Mann wie so viele menschliche Siedler auf Sphinx von der Seuche dahingerafft wurde. In den letzten beiden Jahren waren sie und Scott sich näher gekommen. Scott fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft. Er schätzte ihren schnellen, scharfsinnigen Verstand und liebte es, wenn sie ihm nach einem harten Tag ein Gefühl der Ruhe und des Friedens schenkte. Als die jüngste Schwangerschaft ihrer Schwägerin sich als kompliziert erwies, hatte Irina sich auf dem Gehöft der Zivoniks einquartiert – und Scott musste vorübergehend auf sie und ihre gelegentlichen intuitiven Einsichten in seine Beziehung zu dem Baumkater verzichten.
»Irina«, bat er rasch, »könntest du mir helfen?«
Sie sah ihn mit Wärme an. »Aber natürlich, Scott. Es ist mir eine Ehre.« Auch sie nahm den Blick kaum von der Baumkatze, die langsam den riesigen Pfostenbaum hinabkletterte.
Nachdem Aleksandr seine Kinder ins Haus zurückgetrieben hatte, erreichte die wimmernde Baumkatze den untersten Ast, wo sie innehielt und erbärmlich bliekte. Fisher antwortete ihr, dann deutete er auf sie. Scott versuchte zu ergründen, was der Baumkater wollte. »Ist es okay, wenn ich zu ihr raufklettere?«
»Bliek!«
Nichts von dem, was er von Fisher auffing, ergab wirklich Sinn, nur der emotionale Unterton war unmissverständlich. Scott stellte sich an den Pfostenbaumstamm und blickte besorgt nach oben. Die fremde Baumkatze kauerte sich an den untersten Ast und zitterte am ganzen Leib. Die dunklen Flecke waren tatsächlich Blut, längst getrocknetes Blut, das den einstmals wunderschönen Pelz mit einem hässlichen Muster überzogen hatte. Die Baumkatze war in der Tat zu dünn für ihre Größe, ja, sie wirkte
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