Honor Harrington 5. Im Exil
»Manchmal kann ich mir nicht helfen und schalte auf Konfirmationsunterricht zurück.«
»Ach, wirklich?« fragte Honor mit leichtem Necken. Der Kaplan ließ wie zur Kapitulation den Kopf hängen, und Honor wandte sich an Sutton. »Sowohl die Leute, die Grayson besiedelten als auch die Kolonisten Manticores stammten vornehmlich aus der westlichen Hemisphäre Alterdes, Jared, aber sie hatten sehr unterschiedliche Gründe, das Sol-System zu verlassen.
Die manticoranischen Kolonisten wollten vor allem einem furchtbar übervölkerten Planeten entkommen. Sie fühlten sich eingeengt und suchten sowohl nach einem neuen Ort, an dem sie leben konnten, als auch nach ökonomischen Chancen, aber nur sehr wenige von ihnen wanderten aus, weil sie sich für Angehörige einer unterdrückten Minderheit hielten.
Die Siedler Graysons andererseits waren religiöse Flüchtlinge im klassischen Sinn, die sich tatsächlich als verfolgte Minderheit betrachteten. Während die Manticoraner also die gesamte Bandbreite der Religionen Alterdes mit sich brachten, stammten Ihre Vorfahren aus einer einzigen Glaubensgemeinschaft. Dieser Glaube unterschied sie von der Zivilisation, die sie hinter sich zurückließen, und das machte es unausweichlich, daß sie eine einzige Staatskirche und eine theokratische Staatsform entwickelten.«
»Das verstehe ich schon, Mylady, aber was meinten Sie mit den Erfahrungen aus der Vergangenheit mit Staatskirchen der Manties?«
»Nun, zwo Drittel der manticoranischen Kolonisten stammten aus Europa, und Europa konnte auf eine lange Historie von Sektiererwahn und religiös motivierter Gewalt blicken, die bis ins … hm, sechste Jahrhundert Ante Diaspora zurückreichte – mindestens. Ganze Nationen hatten jahrhundertelang versucht, sich aus religiösen Gründen gegenseitig in die Knie zu zwingen – wie in Ihrem Bürgerkrieg. Die Kolonisten wollten nicht, daß auf ihren Planeten etwas derartiges jemals geschah. Deshalb übernahmen sie die Traditionen der Nordamerikaner, die unter ihnen waren, denn in Nordamerika schrieb die Verfassung eine Trennung zwischen Staat und Kirche vor. Im Sternenkönigreich verbietet das Gesetz dem Staat, sich in religiöse Angelegenheiten einzumischen, und umgekehrt ebenso.«
Sutton stutzte. Der Gedanke an eine deutliche Spaltung von Kirche und Staat erschien ihm so fremd, daß er Jackson um Bestätigung ansah, ob so etwas überhaupt möglich sei.
»Lady Harrington hat ganz recht«, erklärte der Kaplan ihm sanft. »Und in Anbetracht der großen religiösen Vielfalt im Sternenkönigreich war es überaus weise von seinen Gründern, die Dinge einzurichten, wie sie sind.« Er lächelte traurig. »Jeder, der sich mit der Geschichte befaßt, stößt irgendwann auf diese grausame Ironie, Jared. Der Mensch hat vermutlich mehr andere Menschen im ›Namen Gottes‹ getötet als aus jedem anderen Grund. Denken Sie nur an unseren Bürgerkrieg oder an die Wahnsinnigen auf Masada.« Er seufzte. »Ich weiß, daß der Herr uns liebt, aber von Zeit zu Zeit müssen wir Ihn wohl schrecklich enttäuscht haben.«
Die Hauptstützpfeiler waren errichtet, und Adam Gerrick stand auf einem Gerüst, das über der Baustelle des späteren Hauptzugangs thronte. Er beobachtete, wie die glitzernden, riesigen Crystoplastscheiben vorsichtig an Ort und Stelle gebracht wurden. Obwohl selbst das kleinste Teilstück mehr als sechs Meter Kantenlänge aufwies, war das Material so fest, daß die Scheiben kaum drei Millimeter dick waren, und sie waren erheblich leichter als eine Glasscheibe gleicher Größe. Die Schwerkraft Graysons war geringer als die auf Lady Harringtons Heimatwelt, aber noch immer siebzehn Prozent höher als auf Alterde. Vor nur vier Jahren hätten sich die Männer, die nun die Scheiben einbauten, sich auf ächzende Kräne und brutale Kraft verlassen müssen; heute benutzten sie Kontragravs, um die beinahe unsichtbaren Fenster mit zaghafter Leichtigkeit in Position zu schieben. Gerrick verspürte einen Stolz, den er noch immer nicht als selbstverständlich hinnahm.
Langsam wandte er sich auf der Stelle um und überblickte die gesamte Baustelle. Einer der kleineren Aufträge; Lord Mueller wollte ein Testobjekt, bevor er sich zum Bau einer Farm- oder gar einer Stadtkuppel entschloß. Ohne Zweifel aber hatte er sich zur Errichtung des Versuchs ein wunderschönes Fleckchen ausgesucht. Wenn der Bau beendet war, würde die Kuppel die funkelnagelneue Winston-Mueller-Middle-School schützen, die auf der
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