Honor Harrington 9. Der Stolz der Flotte
interessierte, wie Caslet in seine augenblickliche Situation gelangt war; für sie zählte nur, dass er ein ›Havie-Offizier‹ war – und deshalb musste Caslet ständig von einem bewaffneten Leibwächter begleitet werden.
»Warum?«, fragte Honor ihn.
»Hauptsächlich wegen der Verstümmelungen, Ma’am«, antwortete er fest. »Gewiss würden einige Insassen Infernos mit Freuden jeden SyS-Schergen niedermetzeln, der ihnen in die Hände fällt, und wenn ich ehrlich bin, kann ich ihnen das nicht verübeln. Aber das …« Er schüttelte grimmig den Kopf. »Wer immer das getan hat, muss die Opfer aus tiefsten Herzen gehasst haben. Ich habe keinerlei psychologische Schulung, doch die Art der Verstümmelungen sagt mir eindeutig, dass zumindest einige der Täter Menschen sein müssen, die man als Sex-Sklaven hierher verschleppt hatte. Und offen gesagt« – er blickte ihr direkt ins Auge –, »dass diese Menschen Rache üben wollen, kann ich ihnen noch weniger verdenken als den Infernoiten.«
»Ich verstehe.« Honor musterte düster das Terminal und fuhr mit ihrem langen Zeigefinger an der Kante entlang, während sie über seine Worte nachdachte.
Natürlich hatte er Recht. Wie ihr Harriet Benson schon am ersten Tag gesagt hatte, betrachtete die SyS-Garnison alle Gefangenen als ihr Eigentum. Nein, noch schlimmer: als ihr Spielzeug. Und zu viele SyS-Leute waren mit ihrem ›Spielzeug‹ umgegangen wie trotzige, grausame Kinder, die einem Tier den Kopf umdrehen, um zu sehen, was geschieht. Die meisten, die man als Sex-Sklaven nach Styx verschleppt hatte, waren politische Gefangene gewesen – Bürger der VRH –, was zumindest ein Mindestmaß an Vorsicht auf Seiten der Garnison vermuten ließ. Immerhin erteilten die allermeisten Streitkräfte ihren Leuten wenigstens eine Grundausbildung im unbewaffneten Nahkampf.
Nun hatte sich das Blatt völlig gewendet. Zwei Drittel der SyS-Garnison war getötet, verwundet oder gefangen genommen worden, doch wenigstens sechs- bis siebenhundert Leute hatten sich bislang der Festnahme entziehen können. Anders als irgendwo sonst auf Hell konnten sie auf Styx ohne weiteres in den Busch fliehen und sich vom Land ernähren. Honor und ihre Verbündeten waren viel zu wenige, um eine so große Insel wie Styx zu durchkämmen; und Styx war so gründlich terraformiert worden, dass die Insel, von Temperatur und Schwerkraft abgesehen, Sphinx so sehr ähnelte, dass Honor Heimweh bekam. Die Flüchtigen brauchten sich überhaupt nicht mit essbaren Pflanzen auszukennen, denn die planetaren Farmen bedeckten Dutzende und Aberdutzende von Quadratkilometern.
Schade nur für die Havies, dass ihre Sklaven sich weitaus besser im Gelände auskannten als sie. Die Sex-Sklaven und die Sklavenarbeiter auf den Farmen hatten ein geheimes Nachrichtennetz unterhalten – viele der Arbeitssklaven waren selbst jahrelang ›Spielzeug‹ gewesen, bis ihre ›Besitzer‹ ihrer überdrüssig wurden. Außerdem hielten sich zu dem Zeitpunkt, als Honor den Angriff auf Styx begann, mehr als zwanzig entflohene Sklaven im Farmland versteckt. Ihre Flucht hatten sie in der Regel dadurch bewerkstelligt, dass sie ihren eigenen Tod vortäuschten – angesichts der Strömungen und Raubfische vor Styx’ Südostküste war angeblicher Selbstmord durch Ertränken dazu besonders beliebt gewesen. Die Farmarbeiter versteckten und ernährten einige dieser Flüchtigen schon seit Jahren. Doch um der Entdeckung zu entgehen, hatten sie überall auf der Insel Verstecke finden müssen – und das hieß, dass die befreiten Sklaven sich erheblich besser ausrechnen konnten als Honors Leute, wo ihre ehemaligen Herren sich nun wohl verbargen. Man konnte durchaus sagen, dass sie darin erfolgreicher waren als die flüchtigen Havies im Finden guter Verstecke. Einige der Ex-Sklaven waren leider überhaupt nicht bereit, die Kriegsgerichtsverhandlungen abzuwarten, die Honor und Jesus Ramirez versprochen hatten. Und sie zögerten auch nicht, die Ergebnisse ihrer grausigen Strafaktionen dort liegen zu lassen, wo andere flüchtige Havies sie vielleicht fanden.
Das Ganze hat vielleicht sogar ein Gutes , dachte Honor. Vielleicht bewegt das blanke Entsetzen den Rest der Garnison dazu, sich zu stellen und in unsere Obhut zu begeben, ehe jemand sie fängt und abschlachtet. Schlecht ist allerdings, dass ich genau das vermeiden wollte. Ich habe Gerechtigkeit versprochen, keine tierhafte Rache, und werde nicht zulassen, dass Leute unter meinem Befehl ein Verhalten
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