Hornblower 01 - Fähnrich zur See Hornblower
verzweifelten Satz in die Rüsten. Schon hatte er sie zu fassen und holte sich daran hoch. Seine Hände griffen die Wanten, die Füße suchten und fanden die Webeleinen, und er begann zu entern. Als er mit dem Kopf über die Reling gelangte und das Deck übersehen konnte, tauchte ein Pistolenschuß die Szene vor ihm für den Bruchteil einer Sekunde in helles Licht, so daß er einen statischen, bildhaften Eindruck von dem nächtlichen Kampfgetümmel empfing. Vor und unter ihm gingen ein britischer Matrose und ein französischer Offizier wie rasend mit Entermessern aufeinander los. Was ihm wie das Hämmern eines Kesselflickers geklungen hatte, war also in Wirklichkeit nichts anderes als das Geklirr aufeinanderschlagender Klingen, von dem die Dichter so begeistert zu singen pflegten. Romantik und Wirklichkeit waren eben doch zweierlei Dinge.
Über dieser Feststellung war er ziemlich weit nach oben gelangt. Jetzt stieß er mit dem Ellbogen gegen die Püttingswanten, das übelste Stück der ganzen Klettertour. Er hing dabei hintenüber, krallte sich mit den Zehen in die Webeleinen und packte mit den Händen zu, als ob er die dicken Wanten zerquetschen wollte. Nach drei oder vier bangen Sekunden war das überstanden, er bekam die Toppwanten über dem Mars zu fassen und holte sich daran in die Höhe. Nun kam das letzte Stück, er keuchte vor Anstrengung, als ob ihm die Lunge bersten wollte. Gottlob, da war die Marsrah! Hornblower warf sich bäuchlings darauf und angelte mit den Füßen nach dem Pferd. Barmherziger Gott! Das Pferd war nicht da - er suchte in der Dunkelheit verzweifelt unter der Rah herum, aber seine Füße fanden nirgends Halt, sie pendelten nur im Leeren.
So hing er hundert Fuß über Deck und strampelte dabei mit den Beinen wie ein kleiner Junge, den sein Vater mit gestreckten Armen in die Höhe schwingt. Es half alles nichts, das Fußpferd war einfach nicht da, vielleicht hatten es die Franzosen sogar mit Absicht weggenommen, um genau das zu verhindern, was er eben unternehmen wollte. Wie sollte er ohne Pferd, ohne Halt für die Füße, auf die Rah hinausgelangen? Es war ausgeschlossen. Aber die Zeisings mußte losgeworfen werden, damit das Segel gesetzt werden konnte. Alles hing davon ab.
Unter den Seeleuten gab es Tollköpfe, die sich stehend freihändig auf den Rahen produzierten und wie Seiltänzer bis zur Nock hinausliefen. Hornblower hatte solche Kunststücke zuweilen mit angesehen, und jetzt fielen sie ihm wieder ein, weil er offenbar nur auf diese Art an die Nock der Rah gelangen konnte. Im ersten Augenblick stockte ihm der Atem, so sehr sträubte sich sein schwaches Fleisch bei dem bloßen Gedanken an diesen Gang über dem finsteren Abgrund. Das war Angst, nackte Angst, die den Mann seiner Mannheit beraubte und eine lächerliche Vogelscheuche aus ihm machte. Dennoch arbeitete sein rastloser Geist wie im Fieber. Ha, mit Haies war er fertig geworden, dazu war er Manns genug gewesen. Offenbar war er nur ein mutiger Mann, wenn es nicht um seine eigene Haut ging.
Den armen Epileptiker da, mit dem hatte er kurzen Prozeß gemacht. Diese Art von Mut war mehr als armselig! Wenn er dagegen einmal simplen körperlichen Schneid aufbringen sollte, dann versagte er kläglich. War er ein Feigling? Gehörte er auch zu jenen Leuten, über die man unter Männern mit vorgehaltener Hand und nur im Flüsterton zu tuscheln pflegte? Das war nicht auszudenken, das war schlimmer, weit schlimmer als ein Sturz durch die Finsternis, und wenn ihn noch so sehr davor graute.
Keuchend hob er sein Knie auf die Rah und richtete sich auf, bis er stand. Er fühlte das segeltuchbedeckte Rundholz unter seinen Füßen, sein Instinkt sagte ihm, daß er jetzt keine Sekunde mehr zögern durfte.
»Mir nach, Leute!« rief er und rannte los.
Die Rah maß zwanzig Fuß bis zur Nock, er legte diese Strecke mit wenigen, traumwandlerischen Schritten zurück.
Jetzt kannte seine Tollkühnheit keine Grenzen mehr, er beugte sich nieder, stützte sich mit den Händen auf die Rah und legte sich wieder quer darüber. Dann tastete er sofort nach den Beschlagzeisings. Ein Ruck, der durch die Rah ging, sagte ihm, daß ihm Oldroyd nachgekommen war - er war als zweiter Mann nach ihm eingeteilt und hatte sechs Fuß weniger zu gehen.
Zweifellos hatten sich inzwischen auch die anderen Bootsgäste der Jolle richtig auf der Rah verteilt, vor allem konnte er sicher sein, daß Clough als erster drüben die Steuerbordnock erreicht hatte. Das ging allein
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