Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
gingen los.
3
Sie warteten in der Kirche auf uns, in einem Halbkreis vor dem Altar und dem Buntglasfenster, das die Apostel Petrus und Andreas beim Fischen zeigte – was gegen den Nachthimmel natürlich nicht zu sehen war. Es brannten etliche Kerzen und Öllampen und so konnte ich die Personen gut erkennen, die mich erwarteten. Ich kann nicht behaupten, dass irgendeiner von ihnen gelächelt hätte, als ich hereinkam, aber ich wurde trotzdem ein bisschen ruhiger. Auch wenn sie sich hochtrabend als „der Rat“ bezeichneten, waren es doch die Männer und Frauen, die ich schon mein ganzes Leben lang kannte. Und genau genommen hatte ich nichts falsch gemacht. Sie würden mir nichts tun.
Der Erste, den ich entdeckte, war der Vikar, Reverend Johnstone, der dasselbe sauertöpfische Gesicht aufgesetzt hatte wie bei seinen Predigten. Neben ihm saßen Mike Dolan und Simon Reade und genossen ihren Augenblick des Ruhms. Dann kamen Mr und Mrs Flint, ein vernünftiges, ganz normales Ehepaar um die fünfzig. Ihnen gehörte das Haus am Fuß des Hügels, unten am Fluss, und obwohl sie ihre beiden Kinder verloren hatten, versuchten sie immer, positiv zu denken. Miss Keyland nahm ihren Platz zwischen ihnen und Sir Ian Ingram ein, der allgemein nur „I. I.“ genannt wurde (allerdings nicht, wenn er in Hörweite war). Er war der Vorsitzende des Rates und der älteste, klügste und ernsthafteste Mann im Dorf. Niemand wusste, wieso man ihn geadelt hatte. Wir hatten auch nur sein Wort dafür, dass es tatsächlich irgendwann geschehen war. Aber es wäre niemand auf die Idee gekommen, es anzuzweifeln. Wenn ich sage, dass sein Wort Gesetz war, ist das wortwörtlich gemeint. Er war früher Anwalt und hatte viele der Gesetze niedergeschrieben, nach denen wir jetzt lebten.
Jamie Tyler saß mit dem Rücken zu mir, das Gesicht zum Altar gerichtet. Er hockte zusammengesunken auf dem Stuhl, nicht daran festgebunden, aber er schien ohnehin zu erschöpft zu sein, um sich zu bewegen. Als ich hereinkam, schaute er sich um, und ich sah, dass jemand sein Gesicht sauber gemacht und ihm ein Pflaster aufgeklebt hatte. Sie hatten ihm auch sein Hemd weggenommen, und hätte er mich gefragt, wann er es zurückbekäme, hätte ich ihm geraten, nicht darauf zu warten. Sobald es gewaschen war, würde es ein schönes Geschenk für den Sohn von irgendjemandem abgeben, denn schließlich war es fast neu, hatte noch seine Originalfarbe und es waren auch noch alle Knöpfe dran. Er würde sich an das schlecht sitzende, verschlissene T-Shirt mit dem HEINZ 57-Aufdruck gewöhnen müssen, das man ihm stattdessen gegeben hatte.
Unsere Blicke trafen sich und eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl, als versuchte er, mir etwas mitzuteilen. Ich wollte wegschauen, aber irgendwie konnte ich meine Augen nicht abwenden. George machte etwas Ähnliches oft beim Abendessen – sein Blick warnte mich zum Beispiel, eine seiner Bemerkungen nicht zu wiederholen oder Rita zu sagen, was wir tagsüber gemacht hatten. Aber bei Jamie war es viel mehr als nur ein vielsagender Blick. Es war, als könnte ich hören, wie er mir etwas ins Ohr flüsterte.
Sag ihnen nichts …
Das war das Verrückteste, was ich je erlebt hatte, und als ich mich neben ihn setzte (gar nicht gut – zwei Stühle vor dem versammelten Rat, auf denen zwei Angeklagte saßen), musste ich mich sehr bemühen, mir einzureden, dass ich mir das gerade eben nur eingebildet hatte und dass dieser Junge nicht in meinen Kopf eingedrungen war.
Ich sah ihn prüfend an, doch er wirkte ganz normal und unschuldig. Trotzdem wurde mir allmählich klar, dass er weder das eine noch das andere war.
Rita setzte sich in eine der Bankreihen, was bedeutete, dass sie nur zusehen würde und kein Mitglied des Rates war. Dann begann die Sitzung.
Es fing damit an, dass Reade und Dolan ihre Version der Ereignisse zum Besten gaben und sich gegenseitig darin übertrafen, im Mittelpunkt zu stehen, was dazu führte, dass sie alles zweimal erzählten. Sie hatten mich entdeckt, mich gefragt, was ich machte, erkannt, dass ich sie angelogen hatte, waren zurückgekommen und hatten mich mit dem Jungen erwischt. Die beiden versuchten natürlich, es dramatischer darzustellen, als es gewesen war, aber im Grunde war das die Abfolge der Ereignisse.
Sir Ian funkelte mich böse an. „Warum hast du nicht sofort Alarm geschlagen, als du den Jungen bemerkt hast?“, fragte er.
„Das wollte ich“, antwortete ich. „Aber ich hatte keine Gelegenheit
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