Horror Factory 13 - Epitaph
Gedankenfragmente des Numen. Ich erkannte die Sphäre, die es mit seinesgleichen bevölkerte, in ihrer Gesamtheit, doch es gab keine Worte, um dieses Kontinuum zu beschreiben.
Yavoni und ich sahen einander an. Wir berührten uns scheu, lagen uns schließlich in den Armen, schweigend und in Gedanken vereint. Während die Glocke aus schwarzem Rauch unter dem Kuppeldach bedrohlich anschwoll, kroch das Numen herab und näherte sich, bis wir seinen Atem auf der Haut zu fühlen glaubten. Yavoni klammerte sich so fest an mich, dass es schmerzte, doch statt uns niederzustrecken, bewegte das Numen sich über uns hinweg zum Notausgang. Eine Weile schien es das verschlossene Tor zu studieren, dann rammte es seine Fänge tief ins Metall. Seine Kieferzangen schnitten sich durch das Portal, als bestünde es aus Wachs. Als das armdicke Stahlfragment in die dahinterliegende Finsternis kippte, ließ sein Aufschlag den Boden erbeben. In der Metwallwand klaffte ein mannsgroßes ovales Loch, durch das kühle Luft in den Dom strömte und das Feuer anfachte wie ein riesiger Blasebalg. Die Wolke aus giftigem schwarzem Rauch kam gefährlich in Wallung, die Hitze des Feuers in unserem Rücken begann zu schmerzen. Ungeachtet der Flammen schwebte das Numen heran und nahm seinen Platz auf dem Radom wieder ein.
»Was hat das zu bedeuten?«, wunderte ich mich.
Als Antwort entstand ein Bild vor meinem geistigen Auge. Es zeigte Yavoni und mich aus der Vogelperspektive. Wir lagen in einem Nest auf dem Steindamm und liebten uns.
Ich betrachtete das Geschöpf über uns. »Das ergibt keinen Sinn.«
Einer der Numen- Tentakel sank herab und berührte die Stirn der Asiatin. Yavoni zuckte zusammen und ging in die Knie.
»Es sagt, unser Leben gehöre uns«, erklärte sie, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. »Doch alles, was danach folge, ihm …«
»Eine Begnadigung auf Zeit? Ich dachte, das Leben besäße für ein Numen keine Bedeutung.«
»Das Leben eines Einzelnen …«
Yavoni zog mich sanft Richtung Portal – eine stille Aufforderung, diesen Ort dem Feuer zu überlassen. Als ich mit ihr durch das Loch im Metall schlüpfte, wussten wir, wohin unser Weg uns führen würde. Dennoch war es der Beginn einer Reise ins Ungewisse.
Das Numen hatte nicht nur unsere Gedanken, unsere Erinnerungen und unsere Sprachen miteinander verschmolzen. Meine geistige Vereinigung mit Yavoni hatte mir weit mehr gezeigt, mein Bewusstsein auf eine Weise erweitert, die ich zuvor für unvorstellbar gehalten hatte. Yavoni war alt, das intelligente Leben auf der Erde war alt. Es hatte Millionen Jahre vor uns Menschen gegeben, und vor jener Rasse, der Yavoni vor langer Zeit angehört hatte. Selbst sie war nur eine Eskapade gewesen, ebenso wie wir Menschen es in ferner Zukunft sein würden – und jene, die nach uns kommen würden …
»Einst war ich, was du bist« , erinnerte ich mich an die Worte, die das Numen auf dem Rhodeta zu mir gesprochen hatte. »Und einst wirst du sein, was ich bin.«
Auch unsere Welt, unser Universum, hatte vor undenklich langer Zeit als Traum zweier freier Seelen auf der Krone einer Mauer begonnen, hoch über einem uferlosen Meer an einem Ort ohne Namen.
Ich blickte ein letztes Mal zurück zum Epitaph . Das Numen schwebte über dem brennenden Radom und hob wie zum Abschied zwei seiner Beine, wobei es aussah, als salutierte es.
Es ist der Sämann. Wir werden seine Samen sein – und unsere Träume die Saat eines neuen Universums.
Groß ist die Macht der Toten!
ENDE
In der nächsten Ausgabe
Nicht jeden erwartet zur Weihnachtszeit der Friede auf Erden!
Als Marie dem Tod entgeht, glaubt ihr Mann Adrian zunächst an ein Wunder. Maries weiteres Schicksal gerät jedoch immer mehr zum Albtraum, und Adrian wünscht sich schon bald, seine Frau wäre einfach nur gestorben …
Die Suche nach des Rätsels Lösung führt ihn in Maries Vergangenheit, in ein Dorf hoch im Gebirge, aus dem sie im Kindesalter floh. Dort wird Adrian fündig, er kommt einem uralten Geheimnis auf die Spur – aber da fängt das Grauen erst richtig an!
Und jetzt gibt es kein Entkommen mehr vor dem Tod. Denn in dieser unheilvollen Winternacht sind alle am Berg droben gefangen – die Lebenden mit den Toten …
HORROR FACTORY
Unheilige Nacht von Timothy Stahl
HORROR FACTORY erscheint vierzehntäglich in abgeschlossenen Folgen als E-Book und als Audio-Download (ungekürztes Hörbuch).
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