Horror Factory 3 - Der Blutflüsterer
aus dem Schlaf riss, als wäre sie noch ein kleines Baby, das keine Sekunde alleine zurechtkam und dem seine Eltern den Schnuller in den Mund stecken mussten.
»Was ist denn los?«, fragte er, halbwegs sanft. »Hast du Durst?«
Die Antwort bestand in noch lauterem Jammern als zuvor.
»Musst du aufs Klo?«
Noch durchdringenderes Greinen, dicht an der Grenze zum Schreien.
»Ach, komm schon, Susi, du bist alt genug, um …«
Sie zischte aggressiv und warf sich ruckartig zur Seite, dass das Hochbett knirschte. Mit den Beinen strampelte sie die Decke davon. Sie verhielt sich, als wäre sie höchstens halb so alt.
»Sei still, sonst wacht Mama auf.«
Susi schrie.
»Fang nicht so an!«, herrschte er sie an.
Das Schreien verwandelte sich in ein weinerliches Heulen. Heiko packte seine Tochter bei den Schultern. Manchmal half es, damit sie sich beruhigte. »Sei jetzt still! Es ist alles in Ordnung, hörst du!« Er wünschte sich, Susi durchzuschütteln oder zurück ins Kissen zu drücken. Er erschrak über die eigene Aggressivität, und ein Bild blitzte in ihm auf:
Susis zerschnittene Kehle. Das Blut schwamm in ihren leeren Augenhöhlen. Ihre Gedärme rutschten über die Bettkante und klatschten heiß und dampfend auf den Boden.
Heikos Herz schlug wie rasend, er ließ seine Tochter los, wankte einen Schritt zurück und brüllte sie an, nicht mit bewussten Worten, aber der Tonfall sagte alles und bewirkte zwei Dinge.
Susi hörte auf zu jammern, und Charly eilte ins Zimmer.
Die sonst oft sanften hellblauen Augen unter den zerzausten Locken versprühten Zorn. »Lass sie in Ruhe!«, verlangte sie. »Und jetzt verschwinde!«
Ich habe sie gesehen, dachte Heiko, genauso wie ich damals Michi gesehen habe schon ein paar Stunden vorher. Er bekam Magenschmerzen, plötzlich und stechend.
»Hörst du?«, fauchte Charly ihn an. Sie sprach auf diese ganz gewisse Art gerade noch leise und beherrscht, die zeigte, dass sie kurz vor einem Wutausbruch stand. In diese Stimmung kam sie nur, wenn sie vor allem eins war: maßlos enttäuscht.
Heikos Hände ballten sich zu Fäusten. Das Bild war so klar gewesen. Es hatte sich in seine Gedanken eingebrannt. Die Zunge lag abgeschnitten auf dem Kissen. Der Mund stand ein bisschen offen. Er bekam keine Luft. Verlor er den Verstand? Ein Büschel Haare fehlte. Ein Zahn lag auf dem Kinn.
»Papa«, sagte Susi völlig ruhig und klar. Das Mädchen zeigte keine Spur mehr von ihrer Unruhe. »Ist es meine Schuld, dass du so zornig bist? Entschuldige bitte.«
»I-Ich …«
Charly rauschte an ihm vorbei, stellte sich besitzergreifend vor Susi und sah Heiko mit einem kalten Blick direkt in die Augen. »Raus mit dir!« Sie hielt sich mühsam unter Kontrolle. Weitaus besser, als er es an ihrer Stelle vermocht hätte. Einer der Punkte, für die er sie bewunderte, egal wie unüberwindlich die Barrieren zwischen ihnen manchmal schienen. Eine der Eigenschaften, für die er sie liebte. Immer noch.
»Raus mit dir!«, wiederholte sie.
Seine Knie zitterten, sämtliche Muskeln in den Beinen fühlten sich weich und kraftlos an. Er brachte kein Wort heraus und floh an seiner Frau vorbei.
»Sag schon, ist es meine Schuld?«, rief Susi ihm hinterher.
Heiko schlug die Tür seines Zimmers hinter sich zu und kauerte sich auf sein Bett wie ein gefangenes, in die Enge getriebenes Beutetier. Sein Fuß schmerzte nicht mehr, und das Verlangen nach einem Bier war ebenfalls längst gestorben. Er wollte nur noch schlafen und fragte sich, wie es wohl wäre, einfach tot zu sein.
Wenn das so ist und ich sterbe, dann sei nicht traurig.
Mit einem Mal schien sich ein bleierner Druck auf seine Brust und seine Augen zu legen.
Binnen weniger Sekunden schlief er ein und träumte. In diesem Traum sah und roch er
einen heruntergekommenen Flur. Den muffigen Gestank, den der grünschwarze Schimmel in der Ecke verströmte.
Er ist wieder in seinem alten Haus. In einer besseren Zeit. Vor Michis Tod. Aber das Haus ist seitdem zerfallen. Spinnweben überall, und ein dicker Käfer huscht über den Boden.
Heiko weiß, wie man Dinge in einem Traum eben weiß, dass dies die Zeit wenige Momente vor Michis Tod ist.
Alles ist so detailreich, dass es Heiko wie die Wirklichkeit vorkommt. Oder wie die Inszenierung eines Theaterstücks, das mit sämtlichen Sinneseindrücken spielt. Er beobachtet es nicht nur, sondern verkörpert darin die Hauptrolle.
Heiko geht durch das Haus.
Er geht?
Seine Füße berühren den Boden nicht. Etwas zieht
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