Horror Factory 3 - Der Blutflüsterer
alles. Gesundheit war auch nicht zu verachten. Eine Welle der Übelkeit durchlief sie.
Christiane stand auf und öffnete das Wohnzimmerfenster über dem Schreibtisch. Eine kalte Bö ließ sie erschauern. Winzige Regentropfen stoben ihr ins Gesicht. Draußen ging gerade mal wieder die Welt unter: Das Wetter war wirklich scheußlich. Der Startschuss für die Sintflut aus Schnee war glücklicherweise gestern Abend erst nach ihrer Ankunft zu Hause gefallen. Sie mochte es gar nicht, im Schnee Auto zu fahren.
Sie atmete die kühle Winterluft tief ein.
Irgendwo donnerte es; ein Schneegewitter kündigte sich an. Der Lärm rollte vom offenen Feld her durch die Straßen. Unter dem Schleier aus dichten Tropfen und vier Stockwerke tiefer hupte ein Auto. Die Fensterscheiben gegenüber glänzten.
Christianes Blick schweifte über das Waldgebiet. Sie wohnte gern am Stadtrand.
Nach einer Weile zog sie den dünnen Vorhang vor das Fenster, das sie geöffnet ließ, um weiter frische Luft einzulassen. Besser der Stoff wurde nass als die Bastelarbeiten auf dem Schreibtisch.
Mit beiden Händen stützte sie sich ab, atmete tief ein. Der Gestank des Klebstoffs vermischte sich mit dem eigenartigen Aroma der Filzschreiber. Nicht gerade hilfreich, um das Pochen hinter der Stirn und den Schläfen loszuwerden.
Ein Windstoß ließ den Vorhang ins Zimmer wallen. Zwei der kleinen ausgestanzten Sektflaschenbilder, die Christiane noch nicht auf den Karten fixiert hatte, rutschten über die Tischkante.
»Regenfrische vertreibt die Übelkeit«, murmelte sie vor sich hin. Es tat gut, den Klang der eigenen Stimme zu hören.
Das war eine Weisheit ihrer Mutter, die für jeden Moment des Lebens einen passenden Spruch parat gehabt hatte. Vor allem in der Pubertät hätte sie sie dafür mehr als einmal erwürgen können. Wenn sie die Tür hinter sich zuschlug: Fahrkarten für den Hormonexpress gefällig? Wenn sie über ihr Gewicht jammerte: Aller Umfang ist schwer, Liebes, und du bist einfach untergroß. In Wirklichkeit war sie fett gewesen wie eine Kuh. Als alle ihre Freundinnen vom Sex schwärmten und sie nicht mitreden konnte, hatte sie beschlossen, etwas zu ändern. Seitdem kamen mit der dummen Hungerei diese Scheißmigräneanfälle immer wieder, aber das war es wert.
Wind wehte durch das offen stehende Fenster. Er streifte ihre Stirn, und ihr war, als träfe sie ein Orkan. Ihr Kreislauf sackte weg. Das Zimmer drehte sich, und für einen Moment zerfiel es in tausend Scherben. Sie legte sich hin, zog die Beine an und fühlte sich, als müsse sie sterben.
Sie glaubte, ihr Herz würde sich in der Brust drehen. Vielleicht tat es das ja auch. Mit sechzehn lautete die Diagnose der Ärzte auf eine schiefe Herzachse. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn.
Ein Kratzen an der Tür. Oder ein zaghaftes Klopfen?
Christiane drehte sich zur Seite, oder sie wollte es. Ihr Kopf hämmerte zu sehr.
Wieder dieses Schaben.
Was war das?
Dann der Lärm von Schritten auf dem Hausflur. Der alte Vonnegut von gegenüber? Aber der ging nie so spät raus.
Christiane wollte aufstehen, doch ihre Muskeln waren wie Butter.
Ein dumpfes Geräusch draußen, als ob jemand stehen blieb, direkt vor ihrer Tür. Christiane wusste gar nicht genau wieso, aber zu ihren elenden Schmerzen gesellte sich Hand in Hand eine seltsame Angst.
Es klopfte, und ein dünnes Stimmchen rief: »Hilfe.« Das war ein Mädchen. Und nochmal: »Hilfe! Bitte! Ich seh doch, Sie haben Licht!«
Das durfte doch nicht wahr sein! Mühsam quälte sich Christiane auf die Füße. Geh an die nächste Tür, Mädchen! , wollte sie rufen, aber sie brachte kein Wort heraus.
Nach einem Schritt versagten ihr die Beine den Dienst. Christiane brach zusammen und streckte die Hände in einer hilflosen Geste aus.
Das Geräusch, mit dem sie auf den Schreibtisch schlug, schien aus einer fremden Welt zu stammen, aus einer anderen Zeit. Sie spürte gar nichts. Zumindest nicht vom Sturz.
Das Blut dröhnte in ihren Ohren, der Kreislauf rutschte in den Keller. Blaue Karten flatterten auf den Boden, etwas Metallisches blitzte und klimperte auf den Dielen. Ein Hustenkrampf schüttelte sie.
Sie drehte sich auf den Rücken. Sie weinte, und die Tränen rollten über ihre Schläfen. Sie versuchte, ruhig zu atmen.
»Hilfe«, hörte sie von draußen, und: »Gehen Sie weg! Bitte!«
Das Mädchen wurde verfolgt! Angegriffen! Christiane wälzte sich auf alle viere und kroch zur Tür.
Sie öffnete, und es geschahen drei Dinge
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