Hotel der Sehnsucht
Samantha mit in die Ehe gebracht hatte.
Er nahm den Rahmen in die Hand und blickte entgeistert auf das Bild, von dem ihm die fröhlichen Gesichter zweier junger Männer entgegenlachten. Im nächsten Moment flog der Rahmen mitsamt dem Foto quer durch den Raum und zerschellte an der
gegenüberliegenden Wand.
Erst als Samantha die Treppe herunterging und ihr der Duft von frischem Toast in die Nase drang, merkte sie, wie hungrig sie war. Seit sie am Vortag in der Raststätte eingekehrt waren, hatte sie nichts mehr gegessen, und die Aussicht auf ein gutes Frühstück weckte ihre Lebensgeister.
Trotzdem kostete es sie große Überwindung, die Küchentür zu öffnen und Andre unter die Augen zu treten. Der Zufall wollte es, dass er damit beschäftigt war, Kaffee zu kochen, und ihr deshalb den Rücken zudrehte, was Samantha die Gelegenheit gab, sich langsam an den Anblick des Mannes zu gewöhnen, der trotz seiner legeren Kleidung überaus attraktiv aussah.
Als er hörte, dass die Tür ins Schloss fiel, warf Andre einen Blick über die Schulter.
„Guten Morgen", begrüßte er Samantha, ohne sich zu ihr umzudrehen. Ihre Unsicherheit war ihm auch so nicht verborgen geblieben, weshalb er es tunlichst unterließ, seiner Freude darüber Ausdruck zu verleihen, dass sie sich mit großer Selbstverständlichkeit erneut aus ihrem Kleiderschrank bedient hatte. „Möchtest du eine Tasse Kaffee?"
„Vor allem einen Toast." Erleichtert nahm Samantha zur Kenntnis, dass Andre sich alle erdenkliche Mühe gab, der Situation den Anstrich der Normalität zu verleihen. „Ich komme vor Hunger fast um."
„Setz dich doch schon mal", forderte er sie auf. „Das Frühstück ist gleich fertig."
Das Schlimmste ist überstanden, dachte Samantha und kam Andres Aufforderung nach.
Sicherheitshalber vermied sie es jedoch, ihn anzusehen, und blickte sich stattdessen in der Küche um, die, so wie die anderen Räume auch, nicht nur groß und perfekt ausgestattet, sondern darüber hinaus richtiggehend gemütlich war.
„Hast du das Haus eigentlich selbst eingerichtet?" erkundigte sich Samantha.
„Das hat sich meine Mutter nicht nehmen lassen", erklärte Andre und begann, den Tisch zu decken.
Ohne es auch nur zu ahnen, hatte Samantha ein Thema angeschnitten, dem sie sich nicht gewachsen fühlte. „Wohnt sie denn auch hier?" fragte sie ängstlich.
Die Antwort fiel denkbar anders aus, als sie erwartet hatte. „Sie ist vor einigen Jahren gestorben."
„Das tut mir Leid", erwiderte sie verlegen.
Doch Andre schien den wahren Grund für ihre Beschämung zu ahnen. „Du hast sie nicht mehr kennen gelernt", teilte er ihr lapidar mit und stellte die Kaffeekanne auf den Tisch.
„Und dein Vater?" Die Frage lag zu nahe, um sie nicht zu stellen.
„Er ist gestorben, als ich zehn Jahre alt war", antwortete Andre scheinbar ungerührt und wandte sich ab, um den Brotkorb zu holen.
„Es tut mir Leid", wiederholte Samantha mechanisch, froh darüber, Andre nicht in die Augen sehen zu müssen. Ihm blieb sicherlich auch so nicht verborgen, dass sich alles in ihr dagegen sträubte, nach weiteren Familienmitgliedern zu fragen - selbst wenn sich diese Frage geradezu aufdrängte.
Um ihre Unsicherheit zu überspielen, griff Samantha nach der Kaffeekanne, während sie krampfhaft nach einer unverfänglichen Frage suchte. „So groß, wie das Haus ist, gibt es doch bestimmt Personal, oder?"
„Das schon", bestätigte Andre und setzte sich zu Samantha an den Tisch. „Doch erstens kommen die Leute nur stundenweise, und zweitens ist heute Sonnabend. Und am
Wochenende haben alle frei."
„Ach so." Samantha gab sich mit der Antwort zufrieden. Reflexartig tat sie in eine der beiden Tassen zwei Löffel Zucker und reichte sie Andre.
Ohne seine Überraschung auch nur zu bemerken, nahm sie sich eine Scheibe Toast und legte sie auf ihren Teller, um mit dem Frühstück zu beginnen.
Was ihr unter Andres Blicken jedoch unmöglich war. Denn statt seinen Kaffee zu
trinken, solange er heiß war, saß er ihr stumm und regungslos gegenüber und musterte sie aufmerksam.
„Ein bisschen Honig wäre nicht schlecht", sagte Samantha aus lauter Verlegenheit, weil die Situation mit der Zeit unerträglich wurde.
Doch als sie vom Tisch aufstehen wollte, kam Andre ihr zuvor. „Ich kann schon selbst für mich sorgen", platzte sie heraus und sprang auf. Schlagartig war sie sich bewusst geworden, dass An-dr6 sie nur deshalb so rücksichtsvoll behandelte, weil er sie schonen wollte. Und
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