Hotel der Sehnsucht
„Ich habe meine Mutter trotzdem sehr geliebt. Sie und Ra..."
Mitten im Wort unterbrach er sich und wandte sich um. Samantha sah ihn ratlos an, doch er versuchte nicht, sein Verhalten zu erklären. Seine Körperhaltung verriet jedoch, dass er sich maßlos ärgerte.
Erneut klingelte das Telefon, und erleichtert griff Andre nach dem Hörer. „Ist das dein Ernst?" fragte er nach und setzte sich auf den Schreibtischstuhl.
Samantha blieb mit der Suche nach einem vernünftigen Grund für sein Verhalten allein.
Was mochte ihn so bewegen, dass er nicht darüber sprechen wollte? War es die Erinnerung an seine Mutter? Oder hatte ihn die Erwähnung seines Stiefvaters so tief berührt? Immerhin hatte er davor zurückgeschreckt, auch nur dessen Namen zu nennen.
„Jetzt gleich?" Andres Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Einverstanden", sagte er energisch und stand auf. „Nein, das passt mir sehr gut. Ich ziehe mich nur schnell um. Du kannst schon mal alles vorbereiten. Ich bin gleich da."
„Wir müssen unsere Führung leider verschieben", teilte er Samantha mit, nachdem er aufgelegt hatte. „Ich muss leider noch mal weg. Es dauert auch bestimmt nicht lang."
„Schon gut", stimmte Samantha wenig begeistert zu.
Doch Andre schien sie gar nicht mehr zu hören. Er war schon halb aus dem Zimmer, als er sich noch einmal zu Samantha umdrehte. „Wenn du möchtest, kannst du dich auch allein umsehen. Fühl dich ganz wie zu Hause."
„Ich denke, ich bin hier zu Hause", flüsterte sie traurig. Die Aussicht, sie einige Stunden nicht sehen zu müssen, schien Andre regelrecht Flügel verliehen zu haben - so schnell hatte er sich davongemacht.
Samantha versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass ein weltweit tätiger
Geschäftsmann wie er ein viel gefragter Mann war.
So sehr, dass er schon zum zweiten Mal sein Frühstück nicht angerührt hatte, dachte sie lächelnd, als sie das Geschirr auf seinem Schreibtisch sah, und stellte alles aufs Tablett zurück, um es in die Küche zu tragen. Warum soll es mir anders ergehen als anderen Ehefrauen? fragte sie sich, als sie das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler stellte.
„Versteh mich bitte richtig." Plötzlich stand Andre an der Küchentür. „Ich möchte nur vermeiden, dass du irgendwelche ..."
„Dummheiten machst?" beendete Samantha den Satz und fuhr wütend herum. Als sie Andre sah, änderte sich ihre Stimmung schlagartig. Er trug jetzt einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte, und aus dem leger gekleideten Mann, der über alte Bücher dozierte, war unversehens ein knallharter Geschäftsmann geworden, der bereit war, sich in das Haifischbecken zu stürzen - und sicher nicht, um von den anderen gefressen zu werden. Dafür wirkte er viel zu stolz, stark und angriffslustig. Und vor allen Dingen viel zu sexy.
„Tu bitte nicht so, als würde ich mir das aus den Fingern saugen", erwiderte er barsch.
„Das lass mal meine Sorge sein", fuhr Samantha ihn an. „Kümmere du dich lieber um deine Geschäfte."
„Na schön." Andre gab klein bei. „Bevor wir uns wieder streiten, sehe ich besser zu, dass ich von hier wegkomme."
Als er sich umwandte, spürte Samantha, dass ihr Tränen in die Augen traten. „Waren wir früher auch so ... hitzköpfig?" fragte sie mit rauer Stimme.
„Und ob", gestand Andre. „Wir haben uns gestritten, wie wir uns geliebt haben: hemmungslos und ohne Tabus."
Über sein Gesicht huschte ein Lächeln, das auf Samantha geradezu ansteckend wirkte.
„Kein Wunder, dass unsere Ehe nach einem knappen Jahr schon in die Brüche gegangen ist", bemerkte sie spitz. Doch als sie sah, dass Andre etwas entgegnen wollte, wandte sie ihm schnell den Rücken zu.
Andre schien einzusehen, dass es der denkbar falsche Augenblick für ein Gespräch über ein Thema von solcher Wichtigkeit war. „Bis nachher", verabschiedete er sich. Anders als zuvor lag jedoch nichts Drohendes in seiner Stimme. Vielmehr meinte Samantha, etwas wie Ungeduld und Vorfreude auf das Wiedersehen heraushören zu können. Gefühle, die sie durchaus teilte.
Dennoch war sie erleichtert, als Andre gegangen war. Endlich fand sie Zeit und
Gelegenheit, sich im Haus umzusehen, ohne unter ständiger Beobachtung zu stehen. Ihr war keinesfalls entgangen, dass Andre zwischen Hoffen und Bangen schwebte, dass jeder beliebige Gegenstand, auf den sie stieß, der Schlüssel zu dem Riegel sein konnte, der sie von ihrer Vergangenheit trennte.
Nichts dergleichen geschah. Im
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