Hotel van Gogh
jetzt.
Im Erdgeschoss befindet sich ein Restaurant mit altmodischen weißen Spitzenvorhängen. Eine Gruppe amerikanischer Touristen zieht enttäuscht ab, nachdem sie die handgeschriebene Mitteilung am Eingang: Heute geschlossen gelesen hat. Alles wegen meines Onkels, denkt Sabine.
Crosnier klingelt mehrmals, bis Gérard Dechaize, der Besitzer des Hauses, erscheint. »Mein aufrichtiges Beileid, Madame«, begrüßt sie Dechaize. »Arthur Heller und ich saßen hier gestern noch beim Wein zusammen. Wir sprachen über das Schicksalhafte dieses Ortes, wie auch mein Leben durch van Gogh verändert wurde. Er war nicht bedrückt, ganz im Gegenteil. Ich kann mir keinen Reim auf den Vorfall machen. Als die Putzfrau ihn heute Morgen entdeckte, war es bereits zu spät, vielleicht eine halbe Stunde früher, und der Notarzt hätte ihn noch retten können.«
Gérard Dechaize hat volles sandfarbenes Haar, einen krausen Bart, freundliche Augen. Er hätte sich zweifelsohne lieber mit ihr über van Gogh unterhalten anstelle über Selbstmord und all die Unannehmlichkeiten, die dies für sein Haus bedeutet.
»Wir haben Glück, dass die Presse nichts von der Angelegenheit mitbekommen hat. Die sind nur an den Terroristen interessiert. Wenn der Vorfall an die Öffentlichkeit käme, würde dies möglicherweise noch weitere Leute mir Selbstmordabsichten auf den Plan rufen, und das hatten wir mit unserer Erinnerungsstätte wahrlich nicht beabsichtigt.«
Dechaize führt sie an der Gaststube vorbei zu einer abgetretenen Holztreppe. Das Innere des Hauses wirkt altertümlich, dabei macht alles einen sauberen und gepflegten Eindruck.
»Wir haben versucht, den Zustand, in dem sich das Haus zu Zeiten van Goghs befand, naturgetreu wiederherzustellen. Es war zu seiner Zeit die billigste Bleibe in Auvers. Jetzt ist hier das beste Restaurant weit und breit.«
Im oberen Stock befindet sich eine Gedenktafel. Die Holztür zu der Mansarde ist geschlossen und mit einem Plastikstreifen versiegelt.
»Es tut mir leid, Madame Bucher, dass wir Ihnen das zumuten müssen, aber es bleibt uns nichts anderes übrig.«
Der Gendarm sieht sie betroffen an. Als sei es seine Schuld, die Vorschriften, die ihn dazu zwingen, sie in diese unangenehme Geschichte zu verwickeln.
»Ich bin Anwältin, und er ist nicht mein erster Toter, Monsieur Crosnier.«
Innerlich erregt sie sich umso mehr, als hätte Dechaize den Toten nicht identifizieren können, er kannte ihren Onkel besser als sie.
Die Wände der engen Stube in schäbigem Braun, aus einer Luke in dem schräg abfallenden Dach fällt weiches Licht. Der Raum ist unmöbliert. Vor ihr auf dem nackten Holzboden liegt der von einem Leintuch überdeckte Körper. Unwillkürlich streift sie ihr rosa Halstuch ab. Ihre Atmung hat sich beschleunigt. Wie immer, wenn sie aufgeregt ist, atmet sie durch ihren ein wenig geöffneten Mund. Das Ende eines Lebens, die dringliche Mahnung an das Vergängliche allen Seins. Dabei fallen ihr ohne erkenntlichen Grund die iranischen Terroristen ein, die hier heute Morgen von der Pariser Polizei aus dem Schlaf gerissen und abgeführt wurden.
Durch leichtes Achselzucken deutet Sabine ihr Einverständnis an. Daraufhin hebt Crosnier das Leintuch hoch. Ihr Onkel liegt vor ihr auf dem Boden. Sie ist erstaunt, wie wenig er sich verändert hat. Für sein Alter sieht er jugendlich aus, braunes Haar ohne graue Strähnen, eine glatte, sonnengebräunte Haut. Ein zufriedener Eindruck auf seinem Gesicht, als sei er mit sich selbst im Reinen.
»Es ist Arthur Heller.«
»Gut, dann wäre das erledigt.«
Crosnier bedeckt den Leichnam wieder mit dem Leintuch.
»Hat er sich hier erschossen?«
»Es steht nicht genau fest, wo es geschehen ist, wir haben auch die Waffe noch nicht gefunden. Jedenfalls ist er hier verblutet, bevor man ihn entdeckt hat. Er hatte ja die Schlüssel zu dem Zimmer. Sobald sich der Wirbel um die Terroristen gelegt hat, werden wir uns der Sache annehmen. Wir halten Sie auf dem Laufenden. Was soll nun mit dem Leichnam geschehen?«
Plötzlich ist sie sich nicht sicher, über ihn zu bestimmen. Sicherlich hat er in Paris ein aktuelles Testament aufgesetzt, das diesen Punkt regelt.
»Wir sollten damit warten, bis seine letzten Verfügungen bekannt sind. Ich nehme an, dass er entsprechende Anweisungen getroffen hat.«
Mit einem Mal fühlt sie sich elendig müde. Als sie aus dem Haus tritt, fährt gegenüber vor dem Rathaus der Pulk der Fernsehübertragungswagen ab. Die Pariser
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