Hotel van Gogh
Ehepaar Ravoux bestand darauf, den Sarg sofort zu schließen, bei dem Geruch könne man unmöglich bis zur Ankunft der Freunde aus Paris warten. Dr. Gachet erschien übermüdet mit einem Arm voller Sonnenblumen, mit denen er den Sarg bedeckte. Vincents Leinwände der vergangenen Wochen wurden an den Wänden aufgehängt und um den Sarg herum aufgestellt. Die Natur in aufregend berstenden Farben. Wie ein Heiligenschein um den Sarg, bemerkte Émile Bernard, Vincents junger Malerfreund, der am Vormittag angereist war.
Im Kreis der vertrauten Freunde aus Paris hoffte Theo, seine innere Ruhe zu finden, aber das Gegenteil war der Fall. Er fühlte sich verlassen und allein, als er mit der kleinen Gruppe der Trauernden hinter dem Leichenwagen der Nachbargemeinde zum Friedhof von Auvers ging. Auf eine unbestimmte Weise beneidete er den Bruder. Vincent hatte sich davongestohlen, während Theo wie in einer Berg- und Talfahrt der Gefühle das Geschehen in seiner unerträglichen Wirklichkeit durchzustehen hatte.
Der kleine Trauerzug trottete unter einem milchig blauen Sommerhimmel an den gelben Weizenfeldern vorbei. Die aufgewühlten Wolken und die Raben hatten sich verzogen. Vincent hatte seinen Frieden gefunden.
Schweigend kehrte die Gruppe ins Dorf zurück. Später in der Herberge bot Theo aus einer plötzlichen inneren Regung den Freunden an, sich jeweils eins von Vincents Bildern auszuwählen. Lucien Pissaro, Charles Laval, Émile Bernard, seine Jünger, die Wissenden, die sein Werk verstanden. Als er sie bei der Auswahl beobachtete, schien es ihm, als teilten sie Vincent unter sich auf. Er bemerkte auch, dass sich der junge Paul Gachet heimlich mehrere Bilder nahm, aber hätte er in diesem Augenblick einschreiten sollen?
Theo brachte keinen Bissen hinunter. Er trank einige Gläser Wein. Die Vorstellung einer weiteren Nacht in diesem Haus baute sich zunehmend wie ein grauenvoller Alptraum vor ihm auf. Als hätte Madame Ravoux seine Gedanken gelesen.
»Nehmen Sie den späten Zug nach Paris, Herr Theo. Wir werden seine Sachen packen und Ihnen nach Paris senden.«
»Wer soll sich um seine Bilder kümmern, zum Teil sind die Leinwände ja noch gar nicht getrocknet? Grausam, der Gedanke, wenn mein Bruder wüsste, dass ich hier alles stehen und liegen lasse.«
»Herr Hirschig kennt sich damit aus.«
Theo blickte zu Hirschig, der gerade Émile Bernard eines seiner Bilder mit ihrer typisch holländischen Dunkelheit erklärte, von denen Vincent nie viel gehalten hatte.
»Wenn, dann verlasse ich mich auf Sie, Madame. Ich bin Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet.«
Im Abendzug nach Paris sitzt Theo neben Andries Bonger, dem Bruder seiner Frau und seinem besten Freund. Auf den Knien hält er das Selbstporträt, das Vincent aus der Anstalt in St. Rémy nach Auvers mitgebracht hatte. Und nun das einzige von Vincents Bildern, das Theo mit sich nach Paris nimmt. Auf Vincents Gesicht liegt ein ernster Ausdruck. Tiefe Falten um die Augen, die Wangen eingefallen, die Brauen grübelnd zusammengezogen. Die dünn zusammengepressten Lippen von einem roten Bart umrandet. Wie zur Schonung hat Vincent den schmerzvollen Kopf in wellig weiches Hellblau und Lila gebettet. Erschrocken erkennt Theo in Vincents Ausdruck denselben Schmerz, der in seinem Inneren brennt. Als sollte Vincent einmal mehr recht behalten, die Leiden des einen bleiben die des anderen.
Nie hat Theo dies so klar empfunden wie jetzt beim Blick in das verstörte Gesicht des Bruders: Ihrem Leben war ein gemeinsames Schicksal bestimmt. Mit Vincents Tod endet diese Gemeinsamkeit.
5.
Sabine Bucher verstaut Arthur Hellers Gepäck in ihrem Mietwagen, seine Aktentasche stellt sie neben sich auf den Beifahrersitz. Sie setzt ihre Sonnenbrille auf, schaltet die Klimaanlage an, die Hitze draußen war unerträglich geworden, und blickt erleichtert in den blauen Himmel. Den Flug nach Hamburg wird sie mühelos erreichen und dann die Woche mit Peter auf Sylt und alles auf der Welt vergessen.
Warum hat sie eigentlich dem Einäschern nicht an Ort und Stelle zugestimmt? Jetzt bleibt es an ihr hängen, was mit der Leiche zu geschehen hat. Aber gleichgültig ob Einäscherung oder Begräbnis, Selbstmord ist Mord, zuerst muss die Obduktion erfolgen, so lauten die Vorschriften, nicht nur im formalistischen Frankreich, das wäre in Deutschland nicht anders.
Und dass es ein Selbstmord war, steht fest.
Ihr Blick streift Arthur Hellers Aktentasche. Hellbraunes abgenutztes Leder, liebgewonnen über
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