Hotel van Gogh
Eliteeinheit hat das Polizeirevier verlassen. Sommerliche Ruhe kehrt nach Auvers-sur-Oise zurück. Unvorstellbar, dieses ländliche Idyll, und dann der Selbstmord ihres Onkels und die Terroristen.
In dem kleinen Gasthaus, in dem Arthur Heller übernachtet hat, hat man sein Gepäck bereits aus dem Zimmer geholt. Beim Anblick seiner Sachen denkt sie wehmütig an die hochgesteckten Träume ihres Onkels. Irgendwo muss er einen Abschiedsbrief hinterlassen haben, das mindeste, was man von einem Schriftsteller erwarten sollte.
»Was bin ich für das Zimmer schuldig?«
»Das ist erledigt, er hatte bei seiner Ankunft die Übernachtung mit Kreditkarte im Voraus gezahlt.«
Die Frau am Empfang lächelt verlegen. Arthur Heller hat erst noch seine letzte Rechnung beglichen, um niemandem zur Last zu fallen. Sich dann stillschweigend einfach davonzumachen. Hat er dabei übersehen, dass die Polizei sie von Frankfurt hierher zitieren würde?
4.
Theo schreckt beim ruckartigen Anfahren des Zuges auf dem Bahnhof von Auvers-sur-Oise wie aus tiefem Schlaf auf. Aber es war kein Traum. Vincent ist tot. Und damit ist auch seinem eigenen Leben der Sinn genommen.
Jetzt erinnert er sich nur noch verschwommen an Einzelheiten. Irgendwann in der Nacht sagte Vincent in die erdrückende Stille: »Wenn ich nur einfach so dahingehen könnte.« Theo redete ihm zu: »Du musst durchhalten, Vincent, noch diese Nacht, dann haben wir es geschafft!« Vincent hat nicht geantwortet. Sie wussten beide, dass es aussichtslos war. Was der eine wusste, wusste immer auch der andere. Sie waren eine Einheit. Auch jetzt noch, in diesem letzten Augenblick. Besonders da.
Waren das Vincents letzte Worte? Theo war selbst am Bett des Bruders eingeschlafen, und als er aufwachte, lag Vincent gegen ihn gelehnt. Er hatte gehofft, dass Vincent im Schlaf neue Kraft finden würde, bis er bemerkte, dass sein Bruder nicht atmete und sein Körper schlaff und leblos auf ihm lastete.
Er hatte sich von Vincent nicht verabschiedet. In dem entscheidenden Moment, als Vincent die Schwelle ins Reich der gelb strahlenden Sonnenblumen überschritt, hatte er ihn sich selbst überlassen.
Hirschig und Paul Gachet, der Sohn des Doktors, waren in der Wirtsstube, als Theo benommen die Treppe herunterkam. Sie blickten zu ihm auf, ohne Fragen zu stellen. Theo hatte Tränen in den Augen. Er ging langsam durch den Raum und lehnte sich ans Fenster, das Rathaus gegenüber im fahlen Licht einer Laterne: Vincents Lieblingsstimmung, weiches Gelb in der Stille der Nacht. Theo schluchzte hemmungslos, seine Schultern zuckten.
»Soll ich meinen Vater rufen?«
»Es ist zu spät, lassen Sie ihn schlafen. Für alles ist es zu spät.«
Beim ersten Tageslicht betrat Louise Ravoux, die Frau des Wirtes, die Gaststube. Paul Gachet war nach Hause gegangen. Hirschig schlief in seinem Zimmer neben Vincents Kammer. Theo war an einem Gasttisch eingeschlafen, sein Kopf auf den überkreuzten Armen. Die Nacht hatte wenig Abkühlung von der Hitze gebracht. Die Wirtin weckte Theo mit heißem Kaffee, frischem Brot und Honig. Er war plötzlich hungrig, wann hatte er zuletzt etwas gegessen?
»Mein Beileid, Herr Theo. Jeder hier mochte Ihren Bruder.«
»Er fühlte sich bei Ihnen wie zu Hause.«
»Wie haben Sie sich nun das Weitere vorgestellt?«
»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.«
»Gibt es ein Familiengrab in Holland, oder wollen Sie ihn in Paris bestatten?«
»Mein Bruder war ein Wanderer. Er war nirgends zu Hause, außer bei seiner Malerei. Sein Weg hat ihn hierher geführt, dies war seine letzte Herberge, warum nicht hier?«
»Gut, wenn Sie das so wollen. Bei diesem Wetter muss die Bestattung schnell stattfinden, spätestens morgen. Erwarten Sie Verwandte oder Gäste?«
»Wahrscheinlich einige Freunde aus Paris.«
»Seltsam, von Freunden hatte er nicht gesprochen. Er erzählte von seiner Familie, von seinem Neffen und seiner Schwägerin. Und vor allem von Ihnen.«
Theo blickte schweigend vor sich hin.
»Mein ganzes Leben war auf ihn ausgerichtet. Was soll ohne ihn werden?«
»Fürs Erste bleibt Ihnen wenig Zeit zum Nachdenken, Sie müssen sich um eine Menge kümmern: die Beurkundung seines Todes auf dem Bürgermeisteramt, die Vorbereitung der Bestattung, Benachrichtigung der Freunde und so weiter.«
Theo vermisste in diesem Augenblick seine Frau. Johanna würde die anstehenden Probleme ebenso direkt angehen wie diese praktische Wirtsfrau. Die Überlegenheit der Frauen in den Dingen des
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