Hotel van Gogh
viele Jahre. Möglicherweise finden sich darin Unterlagen, die Aufschluss über ihn geben, sein Tagebuch, der Entwurf einer Geschichte oder eines Romans, an dem er gerade arbeitet. Die letzten Aufzeichnungen des Schriftstellers. Aber war er wirklich Schriftsteller? Selbst das weiß sie nicht mit letzter Sicherheit. Wie, wenn er sich unter dem Vorwand, Schriftsteller zu werden, aus seiner bürgerlichen Existenz in Heidelberg davongestohlen hätte, um dann in Paris ein völlig anderes, freies, vielleicht sogar pervertiertes Leben zu führen? Am Ende hat er sich umgebracht, weil er eingesehen hat, dass sein Leben die falsche Richtung genommen hatte.
Sie hält den Wagen am Straßenrand an. Einen Augenblick zögert sie mit dem Öffnen der Aktentasche. Er hat die Welt, in die sie nun eindringt, sorgfältig vor seiner Vergangenheit abgeschirmt. Aber was soll’s, denkt sie, ich handle in erster Linie als Anwältin, Sentimentalitäten sind völlig fehl am Platz.
Vergeblich sucht sie nach einem Abschiedsbrief. Sie findet einen Schlüsselbund und ein in schwarzes Leder gebundenes Notizbuch. Kein Portemonnaie oder Ausweise, die er bei sich getragen haben muss, wie wäre die Polizei sonst an sie gekommen?
Sie nimmt ein Buch heraus: Van Gogh’s Table at the Auberge Ravoux . Auf dem Umschlag ist der Gastraum abgebildet, in dem sie gerade noch mit Crosnier und Dechaize war. Auf der Innenseite eine handgeschriebene Widmung:
Meinem Freund Arthur – wenn man sein Ziel einmal kennt, darf man nicht aufgeben. Der Erfolg stellt sich ein, oft unerwartet und wie von selbst. In Zuversicht, Gérard Dechaize, Oktober 2002.
Das klingt nicht so, als ob ihrem Onkel bis zum Oktober vergangenen Jahres der Durchbruch als Schriftsteller gelungen wäre. Er muss mit Dechaize darüber gesprochen haben, hier im Schicksalshaus van Goghs. Aber warum hat Dechaize, sein Freund und Vertrauter, den Selbstmord nicht voraussehen können? Nachdenklich steckt sie das Buch in die Aktentasche zurück, dabei fällt ihr ein kurzer Text in einer Klarsichtmappe in die Hände.
Der Absinthtrinker
Irgendwann kommt jeder vor dieser Wand an, hinter der unermesslich die Unendlichkeit liegt, durch die sich alles erklärt. Die Grenze zwischen dem Hier und dem Dort. Das Dort außerhalb jeglicher unserer Vorstellungen.
Nachdem ich zwei Gläser Absinth getrunken habe, erkenne ich van Gogh vor der Wand zur Ewigkeit. Ich sehe, wie er immer wieder vor dem entscheidenden nächsten Schritt zurückweicht. Plötzlich stehe ich auch an dieser Stelle, ein Gefühl, das mit nichts zu vergleichen ist. Ich trommle mit den Fäusten gegen die Wand, die sich nur ein einziges Mal, zum vorgegebenen Zeitpunkt, für jeden von uns öffnet. Aber unversehens gibt die Wand nach. Ich stehe wie geblendet vor einem übernatürlich hellen Raum. In der Mitte des Raums blüht eine riesengroße Sonnenblume: die Blume der Ewigkeit. Wahrheit und Sinn, jede Frage erübrigt sich.
Ich verharre regungslos vor der Sonnenblume. Plötzlich beginnt sie anzuschwellen, bis der Raum völlig in Gelb getaucht ist. Aber das Gelb erdrückt mich nicht, ganz im Gegenteil, ich fühle mich frei, freier als je zuvor in meinem Leben. Niemals habe ich ein Gelb so wohltuend und beruhigend empfunden.
Wenn ich malen könnte, sage ich laut in den Raum, ohne zu wissen, ob mir jemand zuhört, würde ich Sonnenblumen malen.
Aber was soll ich schreiben, in der Sprache der Sonnenblume?
Arthur Heller, 16. Juni 2003, Auvers-sur-Oise
Erst gestern hat er diesen Text verfasst, der mit einem Fragezeichen endet. Ich hoffe, dass er dort dieses erlösende Gelb gefunden hat, denkt Sabine, und nicht das schmerzvoll unruhige Gelb, das es hinter dieser Wand ebenso geben muss.
Langsam fährt sie Richtung Flughafen. Ein Einsatzwagen der Polizei überholt sie. Ob ihr Onkel die Razzia gegen die iranischen Terroristen noch mitbekommen hat? Wahrscheinlich nicht, sonst wäre er den Polizisten doch aufgefallen, verletzt auf dem Weg zum Van-Gogh-Haus. Denn die Schusswunde hat er sich außerhalb des Hauses zugefügt, jedenfalls hat das so die Polizei rekonstruiert, wenn auch sonst über den Tatablauf nur wenig feststeht. Wenn man die Waffe gefunden hätte, die irgendwo noch herumliegen muss, wüsste man mehr.
Unvermittelt empfindet sie Mitleid mit ihrem Onkel. In seiner letzten Stunde war er allein und verlassen, und nun überlässt sie, seine nächste Verwandte, der örtlichen Polizei, was mit ihm zu geschehen hat.
Aber wenn er in
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