Hotzenwaldblues
zu lesen waren, und stapfte mit einem gemurmelten Gruß aus
dem Laden: eine hochgewachsene, hagere, leicht nach vorne gebeugte Gestalt mit
noch erstaunlich dichtem Haar, das in grauen Borsten unter der Kappe
hervorstand.
Draußen blieb er stehen und sah sich um. Ah, da vorne war sie. Er
holte das Plastikdöschen mit den Zahnstochern aus der Tasche, suchte sich einen
aus und steckte ihn in den Mund. Seit zwei Tagen beobachtete er Iris Terheyde
nun schon, doch er war unentschlossen. Vielleicht sollte er ihr erst mal
folgen, ehe er sie ansprach. Womöglich war sie ja gar nicht die Richtige. Die
Zeit drängte. Wenn die Heilerin im schweizerischen Laufenburg bezüglich Franz
Örtler recht hatte, stand ein Menschenleben auf dem Spiel. Nun, am Montag
würden sie vielleicht mehr wissen.
3
Eine Bombe! Iris spürte das aus früheren angespannten
Situationen bekannte Ziehen der Dringlichkeit in der Magengrube. Sie machte
sich auf den Weg in Richtung Altstadttor und sah auf die große Rathausuhr. Kurz
nach elf. Sie blickte sich um.
Trautmann und seine Kundin Tanja Gerber waren nicht mehr zu sehen.
Sie grüßte den alten Forstweiler, der vor Lindas Buchladen stand, plötzlich
wild an seinem Zahnstocher kaute und irgendwie verdattert wirkte. Er hatte wohl
gedacht, sie sei schon fort.
Nach etwa hundert Metern war sie beim alten Stadttor mit dem Rathaus
im Obergeschoss angekommen. Es markierte den Beginn des mittelalterlichen
Stadtkerns. Die deutsche Altstadt, einst die »mindere« Stadt genannt, bestand
nur aus einer einzigen längeren Straße, die folgerichtig den Namen Hauptstraße
trug. Der größte Teil, einst die »mehrere« Stadt geheißen, lag auf der
Schweizer Seite des Rheins. Dort, am Fuße der Burg war Laufenburg vor mehr als
achthundert Jahren entstanden, jenes romantische Gewirr von Gassen und Gässchen
mit den Brunnen und den Türmen auf und hinter den einst sternförmigen
Befestigungsanlagen, das sie so liebte. Damals hatte es die Ländergrenze noch
nicht gegeben und nur eine, nicht zwei Städte namens Laufenburg. Über
Jahrhunderte hinweg war die Region links und rechts der Laufenbrücke
habsburgisch gewesen. Bis Napoleon gekommen war und der Rhein zur Grenze wurde.
Fortan war Laufenburg eine geteilte Stadt.
Die Hauptstraße führte bergab an Iris’ Appartement vorbei. Sie warf
einen bedauernden Blick auf die Fenster über den Arkaden, hinter denen es lag.
Jetzt ein Mittagsschläfchen, das wäre schön gewesen. Dann schaute sie schon
fast automatisch auf die andere Seite der Hauptstraße, wo über dem Brunnen von
dem Balkon, der zur Wohnung von Trautmann gehörte, die Geranien grüßten. Was
war denn mit dem los? Früher hatte er Geranien, überhaupt Blumen, doch immer
spießig gefunden. Kam er etwa in den zweiten Frühling? Wahrscheinlicher war
allerdings, dass ihn das Altstadtkomitee so lange bearbeitet hatte, bis er die
Kästen bepflanzte. Vermutlich hatte er es noch nicht einmal selbst gemacht,
sondern es die hilfsbereite Tochter des Inhabers eines Sanitätshauses erledigen
lassen. Oder nein, jetzt hatten sie ja neuerdings einen Gartenbaufachmann in
ihren Reihen. Er hieß Helmut, soweit sie wusste. Den Nachnamen kannte sie
nicht.
Iris setzte ihren Weg über das Kopfsteinpflaster fort und passierte,
so schnell es ihre Kondition erlaubte, die denkmalgeschützte Rheinbrücke zur
Schweiz, an der schon lange keine Zöllner mehr standen. Sie war seit dem Bau
der Hochrheinbrücke im Osten der Stadt nur noch den Fußgängern und den
Radfahrern vorbehalten. Weiter ging es, am Griechen vorbei, dann steil bergauf
Richtung Haus Mariagrün und über die Bahngleise, die hier aus dem Dunkel des
Rappensteintunnels auftauchten. Ab dem einstigen Westbahnhof, inzwischen ein
Wohnhaus, war die Straße für Autos gesperrt – und Iris wie immer gehörig
außer Atem. Sie hielt inne. Diese Hetzerei brachte auch nichts. Deswegen war
Felix keinen Augenblick eher am Treffpunkt.
Iris verlangsamte ihren Schritt, schnaubte und verfluchte die
ermittlungstechnische Gemengelage, in der sie sich befand. Sie saß nicht mehr
an der Quelle. Es hatte damit angefangen, dass ausgerechnet Mathias Bleich
Leiter der Mordkommission bei der Polizeidirektion Lörrach geworden war, jener
Mann, der sie fünf Jahre zuvor schon aus der Polizeidirektion Waldshut
weggeekelt hatte. Damals hatte der große M. alias Manfred Jäger, ihr
väterlicher Freund und Mentor, sie in Lörrach aufgenommen und seine schützende
Hand über sie gehalten. Doch nun war
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