House of God
mehr Unterstützung wir brauchten, desto oberflächlicher wurde unsere Freundschaft. Je mehr Ehrlichkeit wir brauchten, desto sarkastischer wurden wir. Unter den
Interns
galt inzwischen das ungeschriebene Gesetz: Sprich nicht über deine Gefühle, denn wenn du nur eine kleine Schwäche zeigst, wirst du zerbrechen. Wir glaubten, unsere Gefühle könnten uns kaputtmachen, wie die großen Stummfilmstars vom Tonfilm kaputtgemacht worden waren.
Der Kleine kam ins Zimmer, entschuldigte sich bei Chuck für die Abschiebung des agonalen Mannes, aber mittendrin stürzte Mickey herein und fragte, wie es dem Mann ginge.
»Oh, gut«, sagte Chuck, »ja, gut.«
»Sehen Sie. Er hätte niemals das Morphium kriegen dürfen«, sagte Mickey.
»Er lag im Sterben und hatte Schmerzen«, sagte der Kleine wütend, »er …«
»Schon gut. Ich gehe jetzt. Halten Sie ihn bis morgen am Leben.«
»Bis um wieviel Uhr?« fragte ich lässig.
»Bis ungefähr acht Uhr dreißig, viertel vor …« fing Mickey an und merkte dann, daß er sich zum Narren machte, hielt inne, fluchte und ging.
Wir saßen zusammen, leerten die Flasche, und der Kleine driftete in sein Lieblingsthema ab: Sex. Das Herumplanschen in Genitalien schottete ihn ab gegen das Trauma des
Internships
und die Verletzung, die er in seinem Inneren spürte. Gelegentlich geriet ihm die Sache außer Kontrolle. Einmal traf ich ihn am Telephon. Er war hochrot im Gesicht und schrie in den Apparat hinein:
»Nein, ich bin lange nicht zu Hause gewesen, und ich werde dir nicht erzählen, wo ich gewesen bin. Das geht dich nichts an.«
Er hielt die Hand über den Hörer, grinste sein Spiegelkabinett-Grinsen und sagte, »Meine Eltern« und fuhr fort:
»Wie es mit meinem Analytiker geht? Ich hab Schluß gemacht … June? Mit der auch … ich weiß, Mutter, sie ist nett, genau darum hab ich Schluß gemacht. Ich habe jetzt eine Krankenschwester, eine ganz heiße, du solltest sie mal sehen …«
Ich nahm mir vor, dem Kleinen den Hörer wegzunehmen, falls er anfangen sollte, seiner Mutter zu erzählen, was Angel mit ihrem Mund machte.
»Verdammt Mutter, hör auf damit! … In Ordnung, möchtest du wissen, was sie macht? Also, du solltest mal sehen, was sie mit …«
»Hallo, Dr. Runtsky?« sagte ich und entriß dem Kleinen den Hörer. »Hier spricht Roy Basch, ein Freund Ihres Sohnes.«
Zwei Doktorstimmen sagten Hallo. »Es gibt keinen Grund zur Sorge, Leute, Harold geht es gut.«
»Er schien sehr wütend auf mich zu sein«, sagte Frau Dr. Runtsky.
»Ja, nun, das hat was mit dem Primärprozeß …«, sagte ich und dachte an Berry, »nur eine kleine Regression. Und wenn schon.«
»Ja«, sagten die beiden Analytiker
en chorale,
»das wird es sein.«
»Ich kenne diese Schwester, sie ist sehr nett. Machen Sie sich keine Sorgen. Auf Wiedersehen.«
Der Kleine war wütend auf mich und sagte:
»Darauf habe ich zehn Jahre lang gewartet.«
»Das kannst du nicht machen.«
»Warum nicht? Sie sind meine Eltern.«
»Genau darum nicht, Kleiner, weil sie deine Eltern sind.«
»Und?«
»Du kannst deinen Eltern nicht von einer Schwester erzählen, die auf deinem Gesicht herumrutscht!« schrie ich ihn an.
»Christus Allmächtiger, benutzt du denn deinen Verstand überhaupt nicht mehr?«
Der Kleine war reinstes Testosteron geworden. Weder Chuck noch ich hatten Lust, etwas über den jüngsten Harold-Runtsky-Fick zu hören, sondern wollten gehen. Bevor wir uns trennten, fragte der Kleine, ob uns an ihm irgend etwas auffiel.
»Ich bin nicht gelb«, sagte er. »Es ist über sechs Monate her, daß ich mich mit der Nadel des Gelben gestochen habe, und ich bin nicht gelb. Die Inkubationszeit ist vorbei. Ich werde nicht sterben.«
Während es mich freute, daß der Kleine nicht sterben mußte – außer so, wie wir alle sterben mußten –, dachte ich an Potts und was für eine furchtbare Zeit er durchmachte. Der Gelbe lag noch immer im Koma, weder lebendig noch tot. Potts hatte eine Enttäuschung nach der anderen erlebt, die jüngste, als er mit seiner Mutter fertig werden mußte, die bei der Beerdigung seines Vater ausgeflippt war. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, sagte er, er sei völlig am Ende, er habe ein Gefühl wie damals als Kind, wenn seine Familie das Sommerhaus auf Pawley’s Island für den Winter schloß. Seine Mutter räumte dann immer alles, was er liebte, aus dem Zimmer, und wenn er vor der Abfahrt noch einmal reinsah, waren da nur der leere Fußboden, der mit einem
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