House of God
hierherkam.«
»Ich weiß. Ich hatte das auch nicht erwartet. Wir alle erwarten den Amerikanischen Traum von der Medizin. Weiße Hosen, Behandlung, Heilung. Moderne Medizin ist anders. Schauen Sie sich Ina an, die Potts geschlagen hat. Ina, die man vor acht Jahren hätte sterben lassen sollen, als sie in ihrer New Masada-Akte schriftlich darum gebeten hat. Moderne Medizin ist ›Bettruhe, bis Komplikationen auftreten‹, Versicherungszahlungen fürs Händchenhalten und alles, was Sie heute gesehen haben, zum Beispiel den alten Leo, der hier hereinkommt, um zu sterben.«
Ich dachte an die Rokitansky-Schwestern und sagte: »Sie sind zu zynisch.«
»Ist Potts von Ina verkloppt worden oder nicht?«
»Ist er, aber das ist doch nicht normal.«
»Richtig. Unserer Erfahrung nach sterben die Menschen in unserem Alter.«
»Zyniker.«
»Also«, sagte Dickie und zwinkerte mit den Augen, »man wollte verhindern, daß Sie das jetzt schon wissen. Deshalb sollten Sie mit Jo anfangen und nicht mit mir. Ich wünschte, ich könnte lügen. Aber egal, es wird mir sowieso nicht gelingen, Sie zu entmutigen. Es ist wie beim Sex, Sie müssen es selbst rausfinden. Warum gehen Sie nicht nach Hause?«
»Ich habe noch zu tun.«
»Nun, auch das werden Sie mir nicht glauben, aber das meiste, was Sie hier tun, ist ohne jede Bedeutung. Diesen Gomers ist es jedenfalls scheißegal. Aber wissen Sie eigentlich, von wem Sie sich gerade verabschieden?«
Ich wußte es nicht.
»Vom potentiellen Vater von ›Dr. Jung’s Großer Erfindung der Amerikanischen Medizin‹. Damit ist mehr Geld zu machen als mit dem Großen Darmangriff auf Filmstars, das können Sie mir glauben!«
»Was zum Teufel ist das für eine Erfindung?«
»Sie werden es sehen«, sagte Dickie, »Sie werden es sehen.«
Er ging. Ich hatte Angst ohne ihn und war verwirrt über das, was er gesagt hatte. Es selbst herausfinden? In der fünften
Klasse antwortete mir ein italienischer Junge, den ich gefragt hatte, warum er Sex so toll fand: »Weil es sich gut anfühlt.« Ich konnte nicht begreifen, daß jemand etwas tat, weil es sich gut anfühlt. Was für einen Sinn hatte das?
Bevor ich ging, wollte ich mich von Molly verabschieden. Ich traf sie mit einer Bettpfanne auf dem Weg zum Spülraum. Ich begleitete sie. Die Scheiße schwappte in der Pfanne.
»Das ist keine sehr romantische Art, jemanden kennenzulernen«, sagte ich.
»Die romantische Art hat mich in der Vergangenheit in alle möglichen Schwierigkeiten gebracht«, sagte sie. »Das hier ist realistischer.«
Ich sagte Gute Nacht und fuhr nach Hause. Die Sonne war ein fremdes, krankes Ding, das die Stadt mit seinem heißen, roten Glühen ansteckte. Ich war so müde, daß mir das Fahren schwer fiel. Die weißen Streifen bewegten sich im Zickzack über die Straße, wie die visuelle Aura bei einem epileptischen Anfall. Alle Leute, die ich sah, kamen mir seltsam vor, als hätten sie eine Krankheit, die ich diagnostizieren sollte. Niemand hatte das Recht, gesund zu sein, denn meine Welt bestand nur aus Krankheit. Selbst die Frauen ohne BH , zwischen deren Brüsten sich der Schweiß sammelte, und deren Brustwarzen in Erwartung einer üppigen und schwülen Sommernacht hervorstanden und damit die erotischen Düfte der Juliblüten und ihrer erregten Körper unterstrichen, ließen mich nicht an Sex denken, sondern an anatomische Exempel. Brusterkrankungen. Dazu ging mir ein Bossanova durch den Kopf: »Schuld ist nur das Karzinoma, hey, hey, hey …«
In meinem Briefkasten war eine Nachricht:
»Ich denke die ganze Nacht an Dich. Ich denke an Dich in Weiß. Es ist schwer,
Intern
zu sein, aber ich weiß, daß du es schaffst. In Liebe, Berry.«
Während ich mich auszog, dachte ich an Berry. Ich dachte an Molly, ich dachte an Potts und seinen Stahlhammer. Mein eigener war in dieser Nacht ohne Saft und Kraft, denn sie hatten mich geschafft, ich konnte an jenem Tag nichts mehr fühlen, weder Sex noch Liebe. Ich legte mich auf das kühle Laken, das sich so weich anfühlte wie ein Babyfüßchen, so weich wie die Innenseite eines Babymundes, und ich dachte an den seltsamen Dicken, und daß selbst im Sommer, wenn alles grünt und blüht, der Tod eine perverse Nummer ist, eine echt perverse Nummer.
4
Als ich am nächsten Morgen voller Erwartung und Angst auf Station 6 -Süd kam, bot sich mir ein seltsames Bild: Potts saß in der Stationszentrale und sah aus, als wäre er aus einer Kanone abgeschossen worden. Sein Kittel war schmutzig, sein
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