Huckleberry Finns Abenteuer und Fahrten (German Edition)
deiner, und dann fährst du recht langsam zurück, so daß du nicht früher ankommst, als sie dich erwarten können. Ich fahr' wieder ein Stück zurück und komm' dann erst wieder, so etwa eine halbe Stunde nach dir, und das Weitere wirst du schon sehen, du brauchst zuerst gar nicht zu tun, als ob du mich kenntest.«
Sag' ich: »Ganz recht! Aber wart einmal, da ist noch etwas zu bedenken – etwas, das kein Mensch weiß, außer mir. Da ist nämlich noch ein Nigger gefangen dort bei deinen Verwandten, den ich gerne befreien möchte – es ist Jim, Miss Watsons Jim, weißt du?«
»Was? Jim ist ja ...«
Er hält ein und sinnt nach, ich aber sage schnell: »Ich weiß, was du denkst, Tom! Du denkst, das sei ein recht gemeiner, elender Plan, und das ist's auch! Aber was liegt mir dran? Ich bin auch gemein und elend, und ich will ihn freimachen und ihm helfen, und du darfst mich nicht verraten, gelt, das versprichst du mir, Tom?«
Seine Augen blitzten auf: »Ich – dich verraten? Helfen will ich dir!«
Mir fielen die Arme am Leib nieder, als hätte ich einen Schuß bekommen. Das war das Erstaunlichste, was ich je in meinem Leben gehört hatte, und, so leid es mir tut, ich muß sagen, Tom Sawyer sank dadurch ziemlich in meiner Achtung. Ich traute meinen Ohren kaum: Tom Sawyer, der Sohn ehrbarer Leute, ein Nigger-Dieb. Das war mehr, als ich fassen konnte!
»Unsinn«, ruf ich, »du willst mir was weismachen!«
»Nein, ganz im vollen Ernst, Huck, ich mach' dir nichts vor!«
»Na, gut«, sag' ich, »vormachen oder nicht vormachen, auf jeden Fall vergiß nicht, wenn du dort von einem durchgebrannten Nigger hören solltest, daß wir beide, weder du noch ich, etwas davon wissen!«
Das war denn abgemacht, und nun nahmen wir den Koffer und stellten ihn in meinen Wagen. Er fuhr seinen, ich meinen Weg, und sooft ich mich umdrehte, sah ich Toms verwundertes, noch halb und halb ungläubiges Gesicht mir nachstarren. Natürlich vergaß ich darüber ganz, daß ich langsam fahren sollte, um nicht zu früh wieder einzutreffen, fuhr in Gedanken immer drauflos und kam selbstverständlich etwa in der Hälfte der Zeit zurück, die ich für die Länge des Weges hätte brauchen müssen.
Der alte Mann stand am Tor und rief mir entgegen: »Nein, das ist wunderbar! Wer hätte je gedacht, daß die alte Mähre das leisten könnte. Die hab' ich tüchtig unterschätzt. Die geb' ich nun nicht für hundert Dollar her. Vorher hab' ich fünfzehn verlangt und gedacht, damit sei sie bis in die alte Haut hinein bezahlt. Sieh, sieh, wer hätte das gedacht. Und dabei ist ihr kein Haar naß geworden – nein, es ist wunderbar!«
Dabei half er mir kopfschüttelnd beim Ausschirren; es war die beste und argloseste Seele von der Welt! Das wunderte mich aber gar nicht, denn er war nicht nur Farmer, sondern auch Prediger. Er hatte seine kleine hölzerne Kirche, die zugleich Schulhaus war und an der Grenze der Plantage lag, selber und auf eigene Kosten errichtet; und auch für seine Predigten rechnete er nichts an. Da drunten im Süden gibt's viele Prediger-Farmer oder Farmer-Prediger dieser Art.
Nach ungefähr einer Stunde kam Toms Wagen in Sicht. Tante Sally entdeckte ihn zuerst vom Fenster aus, als er noch etwa fünfzig Meter weit entfernt war.
»Ach, da kommt ja jemand! Wer das wohl sein mag? Ach herrje, das ist ein Fremder! Jimmy (das war eins von den Kindern), lauf mal schnell und sag der Liese, daß sie noch einen Teller mehr auf den Tisch stellt!«
Alles stürzte nun der Türe zu, denn ein Fremder zeigt sich hier nicht alle Jahre, und wenn mal einer kommt, interessiert man sich für ihn sogar noch mehr als für das gelbe Fieber! Tom war inzwischen vom Wagen gesprungen und befand sich schon auf halbem Weg zur Türe, während der Wagen wieder der Stadt entgegenrasselte. Wir drückten uns in der Türöffnung zusammen wie eine Herde Schafe, und eins suchte immer das andere zu verdrängen. Tom hatte seine besten Kleider an und ein Auditorium vor sich, und da fühlte er sich allemal ganz mächtig. Auch jetzt trug er sich mit der ganzen großen Würde, über die er verfügte. Er schlich sich nicht linkisch und verschämt heran, nein, stolz und aufrecht schritt er einher, wie ein Kalkutta-Hahn. Bei uns angelangt, lüftet er anmutig seinen Hut, als wäre es der Deckel einer Schachtel, in der ein seltener Schmetterling sitzt, und fragt: »Herrn Archibald Nichols habe ich wohl die Ehre vor mir zu sehen?«
»Nein, mein Junge«, erwiderte der alte Herr, »der
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