Hühnergötter
geraunt, und dann wusste er, wie sehr sie ihn liebte. Jetzt, in diesem Moment, war es ihm wieder eingefallen. Liebes gewaschenes Seelchen.
Vorsichtig nahm er das Kind in den Arm, hüllte es gegen den schwachen Wind umsichtig in die Tücher und machte sich auf den Weg.
Marten Buhrow, der am Himmelfahrtsmorgen ein Neugeborenes am Strand gefunden hatte, schritt aufrecht, mit hoch erhobenem Kopf langsam dem Süderende entgegen. Er sah nicht nach rechts oder links, bis er am Haus seiner Eltern angelangt war und die niedrige Tür unter dem Strohdach sich hinter ihm schloss.
Samstag
»Marie!«
Durch die offene Tür war der Ruf nicht zu überhören, ebenso wenig wie der gleichermaßen gereizte und empörte Unterton, der darin mitschwang.
»Was ist?«, fragte sie zurück, obwohl sie wusste, worum es ging. Sie zog die Gummibänder an den Ecken der Matratzenschoner fest und raffte die schmutzigen Laken zusammen. Im Durchzug zwischen Tür und Fenster machten sich Staub und Flusen über die blanken dielen unter die Betten und die Kommode davon. Sie würde ihnen später zu Leibe rücken müssen.
»Was ist?«, wiederholte sie, als sie vor das Haus trat.
»Wo bleibst du denn?«, fragte Oliver leiser, aber kaum weniger vorwurfsvoll. »Das Kind schreit wie am Spieß, und du wurschtelst seelenruhig in der Wohnung herum!«
Er stand vor der Haustür, eine Hand in der Hosentasche, die andere am Kinderwagen. Die Glöckchen des Holzspielzeugs am Verdeck bimmelten hektisch. Das Kind wurde mehr geschüttelt als hin und her gewiegt.
»Du hättest sie herausnehmen können.« Marie legte das Knäuel schmutziger Wäsche im Eingang ab und beugte sich über ihre Tochter.
»Und dann? Soll ich sie vielleicht stillen?«, empörte sich Oliver.
Marie drehte sich mit dem Kind auf dem Arm zu ihm um. An ihrer Wange spürte sie, wie verschwitzt es war. Vom Weinen und von der ungewöhnlichen Hitze, die seit Tagen über der Insel lag. Hundstage. Schon April und Mai waren so sonnig gewesen wie sonst nirgendwo im Land. Die Wetterfrösche oben auf dem Hochland hatten fast dreihundert Sonnenstunden gezählt. Jetzt waren auch die letzten Quartiere seit Wochen ausgebucht.
»Ich wollte die Zimmer richten«, sagte sie müde. »Es ist Viertel nach elf. In ein paar Stunden kommen die Nächsten, und ich habe noch nichts geschafft außer dem da.« Sie nickte zum Wäscheberg hinüber. »Vielleicht könntest du …?«
Wenn er wenigstens schon staubsaugen würde, dann könnte sie Fenster, Bad und Küche noch rechtzeitig vor der Ankunft der neuen Gäste putzen. Aber er hatte sich schon zum Gehen gewandt, und sie wusste, was jetzt kam.
»Das fällt dir etwas spät ein. Ich hätte das Atelier schon vor einer Stunde aufschließen müssen. Es hängt noch kein einziges Bild draußen.«
Er hatte Recht. In der Saison gaben Ankunft und Abfahrt der Fähren den Takt an, in dem die Insel lebte. Die Fuhrwerke mit den schweren Mecklenburgern im Geschirr mussten am Anleger stehen, in den Lokalen die Tische gedeckt sein. Andenkenläden und Ateliers taten gut daran, sich auf Schwärme von Kunden einzustellen, die ein Souvenir suchten.
»Natürlich«, gab sie mit einem entschuldigenden Lächeln nach. »Es ist eben alles ein bisschen viel im Moment.«
Er strich ihr flüchtig mit der Außenseite seiner Finger über die Wange. »Besser so, als wenn nichts los wäre, oder?«
Bevor sie ihren Kopf an seine Hand schmiegen konnte, machte er sich auf den Weg durch den Garten zu dem kleinen quadratischen Haus, das sein Strohdach wie eine dicke Pudelmütze trug.
Marie ließ in der Gästewohnung alles, wie es war. Fenster und Türen blieben offen, um die Räume mit frischer Seeluft zu füllen. Nur die Schmutzwäsche schob sie mit dem Fuß in das kleine Badezimmer, damit vorbeigehende Spaziergänger nichts sahen als eine sonnendurchflutete Ferienwohnung, die bis zum Nachmittag blitzsauber gemacht werden würde.
Das Haus war eines der ältesten in Vitte. Von seinen ärmlichen Torf- und Lehmwänden stand nichts mehr außer ein paar dicken Feldsteinen, die beim Umbau im Sockel des Ostgiebels zum Vorschein gekommen waren. Aber es hatte seine breite, geduckte Form behalten und stemmte sich wie vor hundert Jahren mit tief in die Stirnseiten gezogenem Strohdach gegen jedes bedrohliche Wetter.
Das Kind hatte aufgehört zu weinen. Seine Hände tappten durch Maries Gesicht, und seine suchenden Lippen machten kleine Schmatzgeräusche, als es sich am Ohrläppchen seiner Mutter
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