Hühnergötter
festzusaugen versuchte. Marie lachte. Die Müdigkeit und der Anflug von Bitterkeit um ihren Mund verflogen.
»Da wirst du nichts finden, mein Schatz. Wir werden uns wohl in unsere Ecke verziehen müssen.« Sie stützte den kleinen Kopf mit der linken Hand und küsste den Flaum, der sie an Entenküken denken ließ. Hellgelb und so fein, dass beim leisesten Hauch die Härchen vibrierten.
In der Stube saß Josefine noch immer in ihrem Sessel am Fenster. Obwohl es angenehm kühl im Raum war, glänzte ein Schweißfilm auf ihrem Gesicht, und auf dem kleinen Tisch lag ein Knäuel zerknüllter Zellstofftücher. Die Hände gingen unruhig im Schoß hin und her. Es sah aus, als zählte die Greisin unaufhörlich Geld mit den gestreckten Daumen über den gebogenen Fingern.
Meist verstanden sich die Frauen, ohne viel miteinander zu sprechen. Aber jetzt fragte Marie besorgt: »Kein guter Tag heute, Finchen?«
Josefine Gau schüttelte den Kopf. »Nee«, antwortete sie knapp. Es war nicht ihre Art, viele Worte zu machen und zu jammern schon gar nicht. Bisher waren nach so schlechten Tagen wie heute auch wieder bessere gekommen. Allen machte die Hitze zu schaffen, warum nicht auch einer alten Frau, die mit einundneunzig Jahren ja wohl zittrig sein durfte.
Außerdem kam jetzt eine schöne halbe Stunde. Das Kind forderte sein Recht, und wenn es trank, tat seine Zufriedenheit auch Josefine gut.
Ihr Blick ging aus dem Fenster über die prallen dunkelrosa Blüten der Hortensienbüsche hinweg zur Straße. Fahrradfahrer. Menschen mit Sack und Pack für den Strand. Eine Frau blieb stehen und bewunderte den Garten. Gegenüber warf die Postbotin Briefe in den Kasten am Zaun.
Im Zimmer Stille. Nur die kleinen Laute des Kindes und, wenn Josefine genau hinhörte, Maries gleichmäßiges Atmen.
Zwei Fliegen inspizierten die Takelage der Brigg Matilde , die Hermann Carl Gau vor mehr als hundert Jahren zu bescheidenem Wohlstand verholfen hatte.
Schiffer auf großer Fahrt hieß das damals noch. In dunklem Rahmen hing das Bild gegenüber den Südfenstern, das hereinströmende Mittagslicht ließ die Segel auf der Leinwand leuchten.
»Fine?«
»Mh.«
»Ich werde heute kein Mittagessen kochen können, sonst ist die Wohnung nicht fertig, wenn Lehmanns kommen.«
»die Jungen oder die Alten?«
»diese Woche Herbert und Ilse. Wie immer in der mittleren Wohnung. Renate und Horst kriegen nächsten Sonnabend die große.«
Josefine nickte. Herbert und Ilse Lehmann aus Halle. Als Liebespaar waren sie vor achtundvierzig Jahren das erste Mal auf der Insel. Doppelzimmer mit Frühstück. Waschgeschirr auf der Kommode, Plumpsklo auf dem Hof. Seitdem hatte sich viel geändert, nicht nur, dass es zwei weitere Generationen Lehmann gab, die ihre Ferienwohnungen dort hatten, wo früher Stallungen waren.
»Ich brauch kein Essen. Aber Tee hätt ich gern.«
»Mach ich«, Marie war erleichtert, »wenn du Leonie so lange nimmst.« Sie legte Josefine das Kind in den Schoß und wartete ab, bis sich die zitternden Arme um den kleinen Körper geschlossen hatten. Leonie lächelte dem runzligen Gesicht unter den schütteren weißen Haaren zu. Das sanfte Rütteln und Zucken gefiel ihr.
Einen Moment erwog Marie, den Kinderwagen nach hinten zum Atelier zu schieben, dessen Fenster und Türen weit offen standen. Sie sah ein Paar hin und her gehen.
Der Mann und die Frau hielten die Hände auf dem Rücken verschränkt, beugten sich vor, traten zwei Schritte zurück und gingen wieder dichter an die Bilder heran. Vielleicht sagte die Frau gerade, dieses oder jenes Bild werde gut zu den blauen Gardinen passen oder zum roten Sofa. Dann würde Oliver vor Wut schäumen. Nicht jetzt, in diesem Moment, aber abends, wenn er von seinen Kunden erzählte und sie einteilte. Banausen oder Kenner, je nach ihren Kommentaren zu seinen Bildern.
Einmal hatte sie einzuwenden gewagt: »Hauptsache ist doch, dass sie etwas kaufen.« Sie hatte den Satz sogar vorsichtig als Frage ausklingen lassen. Trotzdem war er zornig geworden: » Als wenn du etwas davon verstehst, wie es mir dabei geht! Für dich zählt eben nur das Geld, für mich gibt es da noch ein klein wenig mehr!«
Ein Kinderwagen vor dem Atelierfenster war wohl auch nicht das, was er brauchen konnte. Marie warf noch einen Blick auf das schlafende Kind, seine leicht geröteten Wangen, den Mund mit dem hellen Hautzipfel an der Oberlippe und die entspannt geöffneten kleinen Hände. Leonie schlief tief und blieb vielleicht die
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