Hühnergötter
etwas zu unternehmen, und zwar das Richtige. Aber noch hatte er keine Ahnung, was das sein sollte.
Pieplow kam ohne die erhoffte Auskunft zurück. »Von denen hat keiner etwas gesehen. Da drüben«, er zeigte auf ein Sommerhaus, neben dessen blauer Haustür eine Clematis Richtung Reetdach kletterte, »ist seit heute Morgen um zehn niemand mehr. Die Gäste von letzter Woche sind abgereist und die Neuen noch nicht da.«
»Was ist mit Marten?«
Pieplow verneinte mit einer langsamen Kopfbewegung. »Nix«, sagte er knapp.
»Da ist sie nicht«, schluchzte Marie. »Ich hab ihn schon gefragt.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte laut auf.
»Wenn das die Wahrheit ist.« Oliver hatte bisher kaum gesprochen, nur in der Nähe der Tür gestanden und mit starren Augen verfolgt, was geschah. Dass Kästner Marie zum Sitzen nötigte und trotz ihres Widerstandes seine fleischige Hand auf ihrer Schulter liegen ließ. Dass die Alte in ihrem Sessel zitterte wie nie zuvor. Dass Pieplow von seiner läppischen Befragung zurückkam. »Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass der ein Kind verschleppt.«
»Quatsch! der Junge lügt nicht«, fuhr Kästner ihn an, obwohl er selbst es gewesen war, der nach Marten gefragt hatte.
Oliver entgegnete nichts, aber Anspannung und Wut machten seine Augen schmal, und unter der gebräunten Haut seiner Wangen sah man die Kieferknochen mahlen.
Jemand öffnete von außen zaghaft die Tür.
Wenn man vom Teufel spricht, dachte Pieplow, als Hedwig Buhrow ins Zimmer trat.
»Habt ihr sie?«
Marie hob kurz den Blick. Als sie die Bedeutung der Frage erfasste, sank sie wieder in sich zusammen.
»Nein«, antwortete Kästner. »Aber gut, dass du kommst. Jemand muss sich um Marie und Fine kümmern. « dann stürmte er aus dem Haus, als sei er auf der Flucht. Pieplow folgte ihm.
»Früher hätt’s so was nicht gegeben.« Kästner wischte sich mit seinem altmodischen Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn.
Pieplow sagte nichts.
»Und nun?« Kästner stierte ratlos auf die Straße hinter dem Gartenzaun. »Guck dir das an. Jeder von denen könnte das Kind einfach weggetragen haben.«
Pieplow nickte zustimmend. Sporttaschen, Rucksäcke, ein Familienvater mit Kühltasche in der einen und riesigem blauen Ikea-Beutel in der anderen Hand. »Kripo. Ich glaub, wir brauchen die Kripo.«
diesmal war es Kästner, der »mh« machte. Er kratzte sich nervös die Halbglatze, sah auf die Uhr und noch einmal auf die Urlauber mit ihrem Strandgepäck. Er musste eine Entscheidung treffen, und jeder Fehler konnte das Kind in Gefahr bringen, wo immer es sein mochte. Aber vielleicht lag die Lösung so nah, dass er hinterher wie der größte Trottel der Republik dastand. Der Dorfpolizist, dem so etwas Albernes wie eine kindervernarrte Nachbarin über den Kopf gewachsen war. Dann konnte er einpacken. Hier auf der Insel würde er die Blamage nie wieder los. »Hey, Lothar, bei Freese sind zwei Hühner verschwunden! Willste nicht Interpol einschalten?« Er konnte die Häme jetzt schon hören.
Der nächste Blick auf die Uhr sagte ihm, dass noch genau zehn Minuten Zeit blieben, bevor die Schiffe aus Kloster und Vitte in Schaprode anlegen würden. Kästner gab sich einen Ruck und zog das Telefon aus der Tasche.
Er atmete schnaufend, während er darauf wartete, dass die Verbindung zustande kam. Sein Blick ging suchend durch den Garten und wieder hinaus zur Straße, als könne er doch noch etwas entdecken, das die ganze Aktion überflüssig machte. Dann hob er mit einem Ruck den Kopf, und Pieplow wusste, dass Kapitän Carsten Gau sich gemeldet hatte. Kästner hatte zwei, höchstens drei Minuten, um zu erklären, was er wollte.
»Wenn jemand das Kind entführt hat, kann er nur mit euch von der Insel runter … Nein … das weiß ich nicht, Herrgott noch eins … Ja … aber wenn ich erst in Bergen anrufe, habt ihr schon angelegt, ehe überhaupt etwas passiert … Zehn Minuten nur, das wird doch wohl zu machen sein? … Gut … Ja, spätestens in zehn Minuten.«
Vor der Hafeneinfahrt von Schaprode drosselte die Vitte ihre Maschinen. Ein paar hundert Meter weiter draußen wunderten sich zweihunderteinundneunzig Passagiere an Bord der Gellen , dass ihre Fahrt von Kloster zurück nach Rügen plötzlich unterbrochen wurde.
Kästner hatte keine Zeit, über das nachzudenken, was er anrichtete. Er ließ sich mit dem Kriminaldauerdienst in Bergen verbinden und hoffte, dass die Kollegen ihn nicht für hysterisch
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