Huete dich vor deinem Naechsten
meine Handtasche. Als ich einen letzten Blick in das geleerte Fach warf, entdeckte ich ganz hinten ein kleines braunes Kistchen. Ich streckte den Arm hinein und zog die Sendung heraus. Es stand kein Absender darauf.
Jack hämmert immer noch im Erdgeschoss herum. Ich öffne meine Schreibtischschublade und nehme das Kistchen heraus. Ich habe es hier versteckt, ohne irgendwem davon zu erzählen, nicht einmal Jack oder Linda. Ich klappe es auf und nehme den Rubinring mit Daumen und Zeigefinger heraus.
Ich glaube, ich weiß, was es zu bedeuten hat. Das brauche ich mir nicht auszudenken und aufzuschreiben. Ich glaube, es bedeutet, dass er mich geliebt hätte, wäre es ihm nur möglich gewesen. Das wollte er mir sagen. Ich spüre ein Zwicken im Unterleib, die Wunde ist noch nicht ganz verheilt. Ich starre in das rote Feuer des Edelsteins und erinnere mich daran, dass er mich sterben lassen wollte, langsam, allein, unter schrecklichen Qualen und an einem kalten, fremden Ort. Wenn Jack nicht die Polizei verständigt hätte und Detective Breslow und Detective Crowe nicht herausgefunden hätten, wo Marc wohnte, wäre ich jetzt tot. Ich erinnere mich an das T-Shirt, das Rick bei unserer letzten Begegnung trug. Love Kills Slowly.
Kristof Ragan hatte meine Nachfolgerin bereits ins Visier genommen. Sie hieß Martina Nevins. Ich hatte in den Nachrichten davon gehört und ein Interview gesehen. Sie war eine wohlhabende britische Erbin, die ein paar Jahre zuvor ihren Verlobten bei einem Unfall verloren hatte und immer noch darunter litt. Sie war über die Feiertage mit ihrer Familie nach Prag gereist und wäre Kristofs nächstes Opfer geworden. Man sah es ihr an: die Zerbrechlichkeit der Hinterbliebenen, die Verletzlichkeit der Hoffenden.
Er hätte ihr den Ring schenken und sagen können, was er zu mir gesagt hatte: »Dies ist mein Herz. Ich gebe es dir. Ich würde für dich sterben.«
Stattdessen hatte er mir den Ring zurückgeschickt. Und ich bewahre ihn auf, um mich daran zu erinnern, dass die Liebe sich in Taten zeigt, nicht in Worten. Dass nicht jeder Mensch über die Kraft verfügt, einen anderen oder auch nur sich selbst zu lieben. Und dass manche von uns ihr Herz nicht offenbaren können.
Ich klappe den Laptop zu und gehe mit dem Ring zu Jack hinunter. Ich möchte, dass er ihn sieht. Ich möchte, dass er versteht, was der Ring mir bedeutet, dass er mir geholfen hat, Ragan zu verstehen, meinen Vater und mich selbst. Denn ich möchte, dass Jack mir sein Herz offenbart. Und bevor ich das verlangen kann, muss ich mich öffnen.
Als er mich kommen hört, wendet er sich von dem hohen Regal ab, an dem er arbeitet und das mir seine Hoffnungen verrät. Ich halte den Ring auf der flachen Hand und zeige ihn her. Jack runzelt die Stirn, nimmt ihn in die Hand und hält ihn ins Licht, dann sieht er mich an. Er wirkt bekümmert.
»Woher hast du den?«
Ich erzähle es ihm.
»Was wirst du damit tun?«
Auch das erzähle ich ihm. Ich glaube, er versteht mich. Er legt vorsichtig einen Arm um mich und beugt sich herunter, um mich sanft und zögernd auf den Mund zu küssen. Zum ersten Mal seit jener gemeinsamen Nacht küssen wir uns.
Für Jack gibt es kein »Warum«, keine Fragen und keine Neugier, die befriedigt werden will. Er ist mir kein Rätsel, er ist mir nicht fremd. Er ist mein bester, geliebter Freund. Meine Schwester findet, das sei für den Anfang genug. Und meine Schwester hat bekanntlich immer recht.
ANMERKUNGEN DER AUTORIN
I ch hätte das vorliegende Buch nicht schreiben können, hätte ich im Sommer 2007 nicht die Möglichkeit gehabt, fünf Wochen in Prag zu verbringen. Meine Familie und ich haben mit einer netten tschechischen Familie den Wohnort getaucht und haben uns in dieser Zeit Prag angesehen, eine der schönsten Städte, die ich je besucht habe. Prags verschlungene Kopfsteinpflastergassen, die versteckten Plätze, die prunkvollen Gebäude und die Aura des Mysteriösen haben mich wirklich inspiriert. Wenn Sie noch nicht dort waren, fahren Sie hin. Und wenn Sie schon da waren, fahren Sie noch mal hin.
Während meines Aufenthalts hatte ich das große Glück, James Ragan, den anerkannten Drehbuchautor und Dichter zu treffen. James ist Tscheche und kommt jeden Sommer nach Prag, um an der Karls-Universität zu unterrichten. Er hat mir seine Stadt gezeigt, mir ihre Entwicklung in der Zeit nach dem Kommunismus geschildert und hat mich vor allem an Orte geführt, an die ich ohne ihn nie gelangt wäre. Seine
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