Huete dich vor deinem Naechsten
Informationen über Ragans Kommen und Gehen. Wir haben die Fotos auch auf ihrer Digitalkamera gefunden. Sie hat die Bilder ans FBI weitergeleitet und offenbar auch Berisha angeboten. Meine Theorie sieht so aus: Nach dem Verrat an Ragan wurde ihr klar, dass sie alles vermasselt hatte. Sie wusste, er würde ihr niemals verzeihen und sie nicht mitnehmen. Vermutlich traute sie dem FBI nicht zu, Ragan aufzustöbern, wohl aber den Komplizen von Ragans Bruder. Kristof hatte ein paar ihrer Leute getötet; sicher sannen sie auf Rache. Und dafür musste Camilla ihnen die Fotos zeigen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Was ist?«, fragte Grady.
»In dem Fall konnte Berisha unmöglich gewusst haben, wo Kristof Ragan sich aufhält. Er war nur ein Lakai. Ich bin nur seinetwegen nach Prag geflogen. Ich dachte, er hätte ›Praha‹ gesagt, Prag auf Tschechisch. Aber vielleicht habe ich mich verhört.«
»Aber Ragan war tatsächlich in Prag. Vielleicht hat Berisha Ihnen nur einen Grund geliefert, Ihrer Intuition zu folgen. Vielleicht wusste er gar nichts. Wäre möglich.«
»Ich habe gehört, was ich hören wollte.«
»Vielleicht. Sie ahnten, wohin er fliehen würde, aber Sie besaßen kein Selbstvertrauen mehr. Sie wollten sich nicht allein auf Ihr Bauchgefühl verlassen.«
Ich dachte an den Abend im Park. Ich war mir so sicher gewesen. Aber Detective Crowe hatte recht, ich misstraute mir tatsächlich. »Kennen Sie jemanden beim FBI, mit dem ich sprechen kann?«
»Was gibt es da noch zu besprechen?«
Eine ganze Menge. Mir ging es um die Frage, wie alles zusammenpasste. Ich wollte verstehen, was geschehen war. Aber anders als in der Literatur ist es im Leben nun einmal so; manches passt einfach nicht zusammen. Die Kellnerin brachte unseren Kaffee, und ich goss Milch in meinen Becher.
»Ich habe mich schuldig gemacht, indem ich zu selten nachfragte. Ich habe gesehen, was ich sehen wollte, und den Rest ausgeblendet. Ich will das nicht noch einmal tun.«
Crowe nickte verständnisvoll.
»Ich schwöre, ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß. Aber ich werde Ihnen trotzdem die Nummer von Agent Long geben. Er ist ein prima Kerl.«
»Okay. Danke.«
Er warf mir einen schiefen Blick zu. »Sie wollen doch nicht etwa ein Buch darüber schreiben?«
Ich lächelte und schwieg.
Wir plauderten noch eine Weile. Er erzählte mir, er habe eines meiner Bücher gelesen und gemocht, wies mich aber auf einen technischen Fehler hin. Ich fragte ihn, ob ich ihn zukünftig bei solchen Fragen anrufen dürfe. Die Idee schien ihm zu gefallen.
»Also, wie sieht es aus - werden Sie ein Buch über Ihre Erlebnisse schreiben?«, hakte er nach.
»Wahrscheinlich. Früher oder später wird das Thema auftauchen. Das funktioniert nicht so, wie Sie es sich vorstellen, der Prozess ist viel organischer.«
Er nickte nachdenklich, sagte aber nichts.
Wir verabschiedeten uns auf der Straße. Ich war schon einen halben Block entfernt, als er meinen Namen rief.
»Hey«, rief er, »Sie haben mir sehr geholfen!«
»Wie?«
»Wissen Sie noch, in Ihrem Apartment? Sie sagten: ›Ein liebendes Herz akzeptiert. Die Vergebung stellt sich später ein.‹ Das hat mir geholfen.«
»Das freut mich.«
Er hob eine Hand und drehte sich um. Ich beobachtete, wie er in einen unauffälligen Caprice stieg, an dessen Steuer Detective Breslow saß, und fragte mich kurz, was aus ihnen werden würde.
Liebe akzeptiert. Vergebung kommt mit der Zeit. Ich muss an Linda und Erik denken. Und an meinen Vater und das »Warum«, das ich in all den Jahren nicht gefunden habe. Ich muss an den Mann denken, der für mich Marcus hieß, den ich geliebt habe, dem ich sogar seine Untreue verziehen hatte. Vielleicht hätte ich damals schon an ihm zweifeln sollen, und an mir selbst auch. Aber es bringt nichts, die Vergangenheit zu bereuen.
Nach dem Treffen mit dem Detective suchte ich mein Postfach auf, das ich seit Monaten nicht geleert hatte. Ich wusste, dass es vor lauter Werbung und Flyern überquellen würde und höchstens eine oder zwei Sendungen von Belang enthielte - Einladungen zu Lesungen, vielleicht etwas Fanpost. Aber ich hatte mir überlegt, dass ich dringend einmal nachschauen sollte, um meine alten Gewohnheiten wiederaufzunehmen und in die Normalität zurückzukehren.
Ich schloss das Fach auf und zog einen Haufen Papier heraus, das sich, wie befürchtet, als Müll entpuppte und zum größten Teil in der Altpapiertonne landete. Alle handschriftlich adressierten Briefe steckte ich in
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