Huete dich vor deinem Naechsten
immer, was zu tun ist. Das hatte mein Vater über sie gesagt.
Die Nachricht krachte auf den Tisch wie eine Faust, und in meinem Inneren polterte es laut. Weder Linda noch ich sagten ein Wort. Wir starrten unsere Mutter an, und ich weiß noch, wie sie in unseren Gesichtern nach einer Reaktion forschte. Sie wirkte fast trotzig. Mein Blick wanderte zu ihren schlanken, geäderten Händen hinunter, und ich bemerkte, dass sie ihren alten Ehering abgelegt hatte. An ihrem Ringfinger war keine Spur mehr davon zu erkennen. Ich fragte mich, seit wann sie ihn nicht mehr trug. Sie räusperte sich, aß ein Häppchen Kartoffelpüree, trank einen Schluck Wasser. Das Gesicht meiner Schwester war so unbewegt wie immer seit jenem Morgen, als sie unseren Vater entdeckt hatte. Bis dahin hatte ich sie keine einzige Träne vergießen sehen.
»Mädchen, mir bleibt keine andere Wahl«, sagte sie schließlich und strich die Serviette auf ihrem Schoß glatt. »Euer Vater hat uns nichts hinterlassen, und ich habe leider keine Berufserfahrung und keine besonderen Fähigkeiten. Wenn ich arbeiten gehe, verdiene ich nicht einmal genug, um dieses Haus zu halten. Und ich bin der Ansicht, wir haben schon genug verloren.«
Meine Schwester schob das Essen auf ihrem Teller herum, und ich weiß noch, dass die Gabel in meiner Hand plötzlich furchtbar schwer wurde. Nichts war zu hören außer dem Klappern des Geschirrs und dem Ticken der alten Standuhr, die mein Vater so geliebt hatte. Ich schaute zu dem Platz hinüber, an dem er früher saß. Er war der Clown gewesen und meine Mutter die Vernünftige. Er hatte Scherze gemacht, sie hatte ihn mit einem Lächeln und manchmal nicht ohne rot zu werden in die Schranken gewiesen. Er fragte uns, wie der Tag gewesen sei, und er hörte tatsächlich zu. Meine Mutter wollte, dass wir uns zum Abendessen ordentlich kleideten; Jeans waren ebenso verpönt wie das Essen vor dem Fernseher. Wir saßen beisammen und aßen wie eine »anständige Familie«. Ich vermisste meinen Vater nicht - ich sehnte mich nach ihm, wie eine Durstige sich nach Wasser sehnt in einer wasserlosen Welt mit ausgetrockneten Ozeanen und Flussbetten, die unter der sengenden Sonne aufreißen. Meine Mutter sah, dass ich seinen leeren Stuhl anstarrte, und etwas huschte über ihr Gesicht. Vielleicht war es Ärger, oder Trauer.
»Es gab vieles, was ich über euren Vater nicht wusste«, sagte sie. »Wenn ihr älter seid, werdet ihr das besser verstehen.«
»Was?«, fragte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte. Mein Tonfall klang unabsichtlich schneidend, viel zu laut, als klopfte plötzlich jemand an die Tür. Woher sollte ich wissen, dass es mir nicht erlaubt war, unbequeme Fragen zu stellen? Niemand hatte es mir je erklärt.
Meine Mutter schloss die lila geschminkten Augen und öffnete sie langsam wieder. Sie tat das immer, wenn sie uns signalisieren wollte, dass sie am Ende ihrer Geduld war. Sie hat mir die Augenlider gezeigt, pflegte mein Vater zu sagen.
»Das ist jetzt unwichtig, Isabel.«
»Ich möchte wissen, wie du das gemeint hast«, sagte ich entschlossen. »Was hast du nicht gewusst?«
Sie schüttelte den Kopf und atmete langsam aus, so als bereute sie es, das Gespräch jemals begonnen zu haben, so als fehlte ihr nun die Kraft dazu. Im Rückblick wird mir klar, dass sie für eine Witwe mit zwei Töchtern noch ziemlich jung war, nur zwei Jahre älter als ich am Tag von Marcus’ Verschwinden. Sie hatte mit neunzehn geheiratet und war mit zwanzig schwanger geworden. Als mein Vater sich erschoss, war sie fünfunddreißig.
»Tut mir leid, Kinder. Ich hätte nicht davon anfangen sollen«, sagte sie. Sie klang müde und schwach. »Eigentlich braucht ihr nur zu wissen, dass er euch beide sehr geliebt hat. Sehr sogar. Ihr habt ihm alles bedeutet.«
Sie griff nach unseren Händen. Ich wehrte mich nicht, aber Linda zog ihre Hand zurück.
»Hast du ihn überhaupt geliebt?«, fragte sie. Sie war kreidebleich geworden. Meine Mutter starrte auf die Tischplatte und trommelte mit den Fingern darauf herum, während sie über die Antwort nachdachte.
»In einer Ehe geht es nicht nur um Liebe. Daran glauben nur kleine Mädchen.« Sie sagte das in freundlichem Ton. Ihre Stimme klang belegt, ganz fremd.
»Er hat sich umgebracht, weil er wusste, dass du ihn nicht mehr liebst«, sagte meine Schwester unvermittelt und mit einem knappen Kopfschütteln. Ihre Stimme klang brüchig, ihre Hände zitterten. Ich spürte die Angst in mir aufsteigen; sie
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