Huete dich vor deinem Naechsten
dehnte sich aus, drohte, mich zu sprengen.
»Das stimmt nicht, Linda«, flüsterte meine Mutter, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Das stimmt einfach nicht.«
»Doch, es stimmt«, beharrte Linda, seltsam beflissen und mit weit aufgerissenen Augen. »Und alle wissen es.«
Meine Mutter ließ den Kopf auf die Arme sinken und fing zu schluchzen an. Meine Mutter, die Selbstdisziplin in Person. Niemals sprach sie zu laut, niemals lachte sie unkontrolliert. Sie war immer geschminkt, und ihre Kleider saßen stets tadellos. Sie wie eine Vogelscheuche zusammenklappen und weinen zu sehen, war schockierend. Ich legte ihr eine Hand auf den Rücken und spürte sie beben. Ich streichelte ihr seidiges Haar und weiß noch, wie es sich golden glänzend von ihrer grünen Bluse abhob. In dem Moment war sie so authentisch, so weich und voller Leben, so von der Trauer überwältigt. Es war erschreckend und beruhigend zugleich. Sie war echt, der Schmerz hielt sie am Boden. Unmöglich, dass sie sich so wie er einfach verflüchtigen würde.
»Du blöde, selbstsüchtige Kuh«, sagte Linda. Sie stand vom Tisch auf und sah auf unsere Mutter herab, die laut schluchzte. Lindas Gesicht leuchtete in düsterem Triumph, ihr Mund war verzerrt vor Ekel und Verachtung. Sie war ein Spatz von einem Kind, klein und spindeldürr, aber an jenem Abend wuchs sie in ihrer Wut und ihrem Kummer über sich selbst hinaus. Noch wenige Monate zuvor hatte sie Duran Duran geliebt und den Videorekorder programmiert, um Folgen von Schatten der Leidenschaft aufzunehmen, die während der Schulzeit liefen. Sie hatte dieselbe Kuscheldecke, seit sie ein Baby war. Sie lachte über meine dummen Witze. Aber dieses Mädchen gab es nun nicht mehr, nur ihre Hülle war geblieben. Sie ließ uns allein. Langsam und ohne Eile stapfte sie die Treppe hoch, ging ins Kinderzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Ich blieb sitzen und streichelte meiner Mutter den Rücken. »Ist schon gut, Mom. Mach dir keine Sorgen.« Etwas anderes fiel mir nicht ein.
»Ich habe ihn geliebt, Isabel«, flüsterte meine Mutter. »Wirklich. Es hat ihm bloß nicht gereicht.«
Selbst damals, als ich erst zehn war und keine Ahnung hatte von der Macht des Geldes und der Liebe und den Geheimnissen, die Eheleute voreinander haben, wusste ich, dass sie die Wahrheit sagte. Mein Vater weilte als Geist bei uns. Er war ein liebenswürdiger, gütiger Mann gewesen, der immer lächelte, das Richtige sagte, die besten Geschenke machte und uns im richtigen Moment in den Arm nahm. Aber selbst als Kind hatte ich gespürt, dass er sein Inneres vor uns verschloss, dass wir nicht an ihn herankamen. Er war wie ein leuchtend roter Heliumballon gewesen, immer kurz vor dem Abflug - bis er eines Tages tatsächlich davonflog.
Ich bin anders als meine Mutter. Ich wende mich nicht von den Dingen ab, ich klappe nicht die geschminkten Augenlider zu, wenn ich etwas nicht sehen will. Das wäre mir unmöglich. Ich bin die Suchende. Die Beobachterin. Wie eine Flüssigkeit sickert das Leben durch meine Poren ein; ich nehme alles in meinen Stoffwechsel auf. Ich stelle Fragen, höre mir die Antworten an, extrapoliere Bedeutung aus Stimmen und Tonlagen. Bei unseren Ehekrächen drehte sich alles um die Sprache. Marcus, der kein Muttersprachler war, hob die Hände und ließ mich stehen, und ich regte mich furchtbar auf über die Semantik, über die Konnotationen seiner Worte, um gleichzeitig ihre eigentliche Bedeutung, seine eigentlichen Argumente, zu ignorieren. Behauptete er jedenfalls. Dabei haben wir nichts als Worte, nur sie bilden einen Zugang zu unserem Inneren, nur durch sie können wir andere fühlen lassen, was wir selbst fühlen.
»Isabel, du benutzt die Sprache wie eine Waffe, wie ein Schwert«, hatte er einmal gesagt. »Bin ich dein Gegner? Wirst du mich verletzen, weil ich weniger gut damit umgehen kann als du?«
»Und du benutzt sie wie ein grobes Werkzeug - ungenau, ungeschickt, du hämmerst und hämmerst, um deinen Standpunkt klarzumachen. Du würdest einen Presslufthammer zum Sticken verwenden.«
»Was ist mit der Affäre, von der Sie gesprochen haben?«, riss Detective Crowe mich aus meinen Gedanken. Ich wusste nicht, wie viel Zeit seit seinem letzten Satz vergangen war.
»Was soll damit sein?«
Ich hörte ihn seufzen, so als stellte ich mich absichtlich blöd, um ihn zu ermüden. »Wie haben Sie davon erfahren? Kannten Sie ihren Namen, ihre Adresse?«
»Ich wusste es einfach«, sagte ich, »ich
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