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Huete dich vor deinem Naechsten

Titel: Huete dich vor deinem Naechsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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Erik und die Kinder zu sehen, die ihre Hausaufgaben oder das Pausenbrot vergessen hatten und zu faul waren, noch einmal heraufzukommen. Aber da war nicht ihre Familie. Als Linda den Mann erkannte, musste sie nach Luft schnappen. Sie riss den Hörer aus der Wandhalterung.
    »Was tust du hier?«, zischte sie.
    »Tut mir leid«, sagte er und schielte in die Kamera, »ich hab sie in die U-Bahn steigen sehen.«
    Im Kopf überschlug Linda die Zeit - zwanzig Minuten zur Schule, fünfzehn fürs Hineinbringen und Jacken ausziehen, ein Abstecher zur Bank und zum Supermarkt. Erik würde mindestens noch eineinhalb Stunden brauchen. Er hatte sie gebeten, auf ihn zu warten, weil er ihr etwas Wichtiges mitteilen wolle. Sie hatte geantwortet, sie müsse Isabel helfen. Ob das Ganze nicht warten könne? Nein, hatte er gesagt, das könne nicht warten.
    »Du musst gehen. Sofort«, sagte sie. Obwohl sie wütend war und Angst hatte, verspürte sie ein wohliges Kribbeln, ein schuldbewusstes Verlangen. Sie warf Brown einen bösen Blick zu, woraufhin er zu bellen aufhörte und sich wieder Richtung Sofa trollte. Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, es ihm zu verbieten.
    »Linda, bitte. Ich muss dich sehen.«
    Sie spielte mit dem Gedanken, ihn heraufzulassen und eine schnelle Nummer unter der Dusche zu schieben. Erwägte, ihre ganze Anspannung in einem erdbebenmäßigen Orgasmus zu entladen. Aber nein, so tief war sie nicht gesunken, so dumm war sie nicht.
    »Wir treffen uns«, sagte sie. »An der Ecke ist ein Coffeeshop. Geh da hin. Zehn Minuten.«
    »Lass mich rein«, sagte er und rückte dichter an die Kamera. Sie spürte, wie ihr am ganzen Körper heiß wurde.
    »Nein«, sagte sie. »Du bist verrückt.«
    »Hab ich dir doch geschrieben. Ich bin verrückt nach dir.«
    Linda lehnte die Stirn an die Wand und rang die schreckliche Versuchung nieder. Sie stellte sich vor, wie er durch die Tür kam, seine Hände auf ihrem Körper, seine Leidenschaft. Wie konnte es sein, dass sie eine Affäre hatte, ausgerechnet sie? Das brave Mädchen, die Frau mit dem perfekten Ehemann, dem perfekten Leben. Es war widerlich. Sie hasste sich selbst. Aber sie kam nicht von ihm los.
    »Ich bin in zehn Minuten da.«
    »Linda.«
    »Geh.«
    Er stöhnte und verschwand vom Monitor.
    »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte Linda und ging ins Bad. Sie band sich die Haare hoch, damit sie nicht nass würden, duschte und zog sich hastig an. Dann nahm sie ihren Mantel und ihre Handtasche und eilte zur Tür. Sie würde sich ganz kurz mit ihm treffen und anschließend sofort zu Izzy fahren. Erik würde warten müssen.
    »Sei ein braver Hund«, sagte sie zu Brown, der tief und fest schlief.
     

NEUN
    E s fühlte sich seltsam folgerichtig an, das Apartment, das Marcus und ich geteilt hatten, so verwüstet zu sehen. Während ich durch die Trümmer unseres gemeinsamen Lebens watete - das Ölgemälde, das wir in Paris gekauft hatten, lag zerschlitzt am Boden, daneben die Scherben einer Kristallvase, die wir zur Hochzeit bekommen hatten, und alle Bettlaken waren zerschnitten -, spürte ich wider Erwarten keine Wut. Ich erkannte das Poetische darin. Wir hatten uns ein Leben aufgebaut, Erinnerungen gesammelt, Beweisstücke für den gemeinsam zurückgelegten Weg. Als ich durch die Zimmer wanderte, die für mich voller Erinnerungen steckten, kam es mir irgendwie passend vor, dass alles zerbrochen war. Ein fast greifbarer Hass lag in der Luft. Der Ort schien nicht derselbe zu sein, an dem ich die letzten fünf Jahre meines Lebens verbracht hatte.
    Detective Crowe, mein Schatten, war so taktvoll zu schweigen, während er mir durch die Zimmer folgte, aber ich konnte seinen Eifer spüren. Er war angespannt, erregt von den unzähligen Gedanken, die durch sein Hirn schossen. Unter meinen Sohlen knackten die Scherben, als ich mich langsam vorwärtsbewegte, ein Foto meiner Schwester aufhob, den roten Nagellack berührte, den jemand auf dem Waschtisch verschüttet hatte. Der Fleck hatte die Form eines Herzens.
    Schließlich ließ ich mich in meinem kleinen Arbeitszimmer, das vom Schlafzimmer abging, in meinen Sessel sinken und starrte auf den schwarzen Monitor. Er war groß, wie eine Wand. Wenn ich schrieb, schwammen riesige, schwarze Wörter über den Bildschirm wie über eine weite, weiße See. Es half mir, sie stark vergrößert zu sehen, als hätten sie dann mehr Bedeutung, als fesselten sie meine Aufmerksamkeit stärker, meine Konzentration, die immer abzudriften drohte. Der

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