Huete dich vor deinem Naechsten
dachte eher laut. Ich war immer noch in jenem Zustand der Orientierungslosigkeit, wenn innen und außen nicht zusammenpassen.
»Mrs. Raine, haben Sie mal einen Blick auf Ihr Konto geworfen?«
Die Frage schnitt durch mich hindurch, sie war so scharf, dass ich den Schmerz zunächst nicht spürte. Dann fühlte ich das langsame, pochende Anschwellen von Furcht. Ich drehte mich zum Bildschirm um und ließ die Hände über der Tastatur schweben, hielt dann aber inne. Ach ja, der Computer war weg, der dunkle Monitor mit nichts verbunden. Ich drehte mich wieder um.
»Ich war sechs Jahre mit Marcus zusammen, fünf davon verheiratet«, sagte ich. »Was Sie da mit Ihren Fragen unterstellen, ist schlicht unmöglich.«
»Was, glauben Sie, unterstelle ich?«, fragte Detective Crowe. Er hatte seine typische Haltung wieder eingenommen, gespreizte Beine, Arme verschränkt. Detective Breslow senkte den Blick, dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Sie waren ein eingespieltes Team, jeder hatte seine Rolle. Das konnte ich jetzt schon sehen.
»Ich frage nur, was ich fragen muss«, erklärte er, als ich nicht antwortete. »Falls die Antworten ein verstörendes Bild ergeben, sollten Sie darüber nachdenken, Mrs. Raine.«
Ich drehte mich wieder von ihm weg und entdeckte mein Spiegelbild im Monitor. Ich entdeckte eine Frau, die übel zugerichtet worden war und dementsprechend aussah. Hinter mir Detective Crowe, die Stirn in tiefe Sorgenfalten gelegt, so als durchschaute er mich nicht. Ich verhielt mich anscheinend nicht so, wie er es von einer Frau in meiner Situation erwartete. Ich glaube, er wollte mich als weinendes, verschrecktes Opfer sehen. Er kannte mich nicht.
»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Mein Mann wird vermisst. Meine Wohnung - mein Kopf - kaputt .« In der Ferne hörte ich eine Polizeisirene heulen und das Donnern eines Müllwagens. »Wenn Sie glauben, dass ich mit diesem Chaos etwas zu tun habe, müssen Sie mich verhaften und mit meinem Anwalt telefonieren lassen. Andernfalls sollten Sie mir eine Minute zum Nachdenken geben.«
»Okay«, sagte er, hob beide Hände und entspannte seine Stirn. »Ich verstehe. Aber bitte verstehen Sie mich auch. Manchmal wissen wir mehr, als wir glauben. Manchmal passieren Dinge wie aus heiterem Himmel. Aber das kommt uns nur so vor. Wenn etwas in unserem Leben unstimmig ist, merken wir es, selbst wenn wir die Augen davor verschließen.«
Aus dem Apartment über uns drang leise Klaviermusik. Gespenstisch, fast unheimlich. Chopin. Marcus hatte Chopin immer gehasst. »Blutleer, unbefriedigend, höllisch deprimierend«, hatte er gemeint.
»Sie Philosoph«, sagte ich.
Wieder diese Andeutung seines Lächelns, das Zucken der Mundwinkel, so als wäre er über alles insgeheim amüsiert. Aber nein, so herzlos war er nicht. Ich glaube, er hatte bloß einen Sinn für die absurde Komik der Situation, für diese Ironie des Schicksals. Er hätte lieber gelacht als geweint. Und in jedem Fall sollte er recht behalten.
Meine Mutter heiratete wieder, schneller als schicklich war. »Er ist noch nicht einmal kalt«, hörte ich meine Schwester während der kleinen Zeremonie hinter unserem Haus flüstern. Weniger als ein Jahr nach dem Selbstmord meines Vaters streifte meine Mutter ein elegantes, champagnerfarbenes Chiffonkleid über und heiratete einen Mann, den meine Schwester und ich erst zweimal gesehen hatten. Es gab eine Hochzeitstorte mit Marzipanblumen, Sandwiches und eine Art Punsch. Als meine Mutter und ihr Bräutigam erschienen, verwandelten sich die stirnrunzelnden Gesichter zu starr lächelnden Masken. Meine Schwester verhielt sich genauso still und mürrisch wie bei der Beerdigung unseres Vaters. Meine Mutter war so hübsch wie immer mit ihren rotblonden Locken und der Alabasterhaut. Sie benahm sich dem Anlass angemessen, war nicht albern, meiner Meinung nach nicht einmal besonders fröhlich und wirkte hauptsächlich erleichtert. Und ich hielt mich im Hintergrund, beobachtete die Leute, hörte Konversationsfetzen, lauschte auf Zwischentöne.
Sie hatte es uns ein paar Monate früher beim Hühnchenessen mitgeteilt.
»Ich werde Fred heiraten. Er ist ein guter Mann. Er wird für uns sorgen und uns Sicherheit bieten.« Sie sagte das, als würden wir ihn kennen, als erwarteten wir die Nachricht längst. Wir hatten ihn zum ersten Mal gesehen, als er sie abends abholte. Und einmal war er zum Abendessen bei uns zu Hause gewesen. Margie ist eine sehr patente Frau. Sie weiß
Weitere Kostenlose Bücher