Huete dich vor deinem Naechsten
schwarze Bildschirm kam mir vor wie ein Loch, in das ich hineinfallen könnte.
Sämtliche meiner Dateien lagen als Sicherungskopie in Jacks Büro, deswegen machte ich mir um verloren gegangene Manuskripte keine Gedanken. Das war die letzte meiner Sorgen, und an meine persönlichen Dateien würde ich erst in einigen Stunden denken - an private Briefe, Tagebücher, Kalender, Kontoverbindungen, E-Mails. Noch vor zwei Tagen hatte ich an diesem Schreibtisch gesessen und mich selbst gegoogelt, Fanpost beantwortet, die Webseiten anderer Autoren besucht - ich habe alles Mögliche getan, nur um nicht zu arbeiten, was ich eigentlich hätte tun müssen. In dem Moment war ich wütend auf mich selbst gewesen, auf meine Konzentrationsfähigkeit und mangelnde Produktivität. Zwei Tage später erschien mir dieser Zustand geradezu paradiesisch. Ich hätte jede Summe bezahlt, um wieder dort zu sein.
»Mrs. Raine, ist Ihr Ehemann früher einmal gewalttätig oder psychisch krank gewesen?«
Ich fuhr herum und entdeckte eine zierliche Frau, die uns gefolgt war und nun halb links hinter Detective Crowe stand.
»Meine Kollegin, Detective Jesamyn Breslow«, sagte der Detective nickend.
»Nein«, sagte ich zu ihr. Die Frage überraschte mich. »Sie glauben, mein Mann hätte das getan?«
Sie legte den Kopf schief. Sie hatte etwas von einer Elfe, ihr kleines Gesicht war makellos geschnitten - eine süße Stupsnase, ein perfekter Kussmund, mandelförmige Augen. Sie wirkte strahlend, elektrisch, so als könnte sie, wenn wir das Licht ausschalteten, den Raum ganz allein erhellen. Ihre Fingernägel waren kurz und gepflegt, ihre Haare zu einem akkuraten Bob geschnitten. Ihre Kleidung war geschmackvoll und nicht billig, obwohl man dem leicht glänzenden, schwarzen Blazer anmerkte, dass er schon zu oft in der Reinigung gewesen war. Ihre Mikrofaserschuhe mit dem Keilabsatz waren vorn leicht abgestoßen. Die beiden Polizisten bildeten einen verblüffenden Kontrast: Sie war sparsam, er verschwenderisch. Er war kühl, bedächtig, dunkel; sie wirkte hitzig, spontan, impulsiv. Und dennoch schien sie die Reifere, Ausgeglichenere von beiden zu sein.
»Hier lassen sich jede Menge Spuren einer blinden Zerstörungswut finden«, erklärte sie. »Persönliche Gegenstände wurden zerstört, Fotografien entstellt.«
»Die Sorte Hass, wie sie nur ein frustrierter Ehemann empfinden kann?«, fragte ich. Detective Breslow zuckte die Achseln. Ich sah ihren Blick hin und her schießen. Ganz kurz zog sie sich in sich selbst zurück, schien über ihr eigenes Leben nachzudenken.
»Oder umgekehrt«, fügte Detective Crowe hinzu. Ich erinnerte mich an seine Beichte vom Vorabend, an die treulose Ehefrau, an seine Verbitterung.
»Niemand hat einen so kühlen Kopf wie Marcus«, hörte ich mich sagen. Ich klang schroff, fast feindselig. Den beiden entging das nicht, sie tauschten Blicke. »Er wurde kaum einmal laut. Wenn er sich ärgert, wird er still - eiskalt, hart. So etwas würde er niemals tun. Dazu wäre er nicht in der Lage. Das wäre Energieverschwendung.«
Ich hatte zu viel gesagt, zu spät begriffen. Als ich die beiden dort stehen sah, wurde mir plötzlich klar, dass es ein Fehler gewesen war, die Wohnungsdurchsuchung zu erlauben. Ich hatte Marcus immer als das Opfer gesehen, das Hilfe brauchte. Ich musste nichts verbergen. Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass die Sache bei ihm anders lag.
Isabel, hörte ich ihn in gedehntem, väterlichem Tonfall mit mir schimpfen. Wie dumm von dir. Diese Leute sind nicht gekommen, um dir zu helfen. Die helfen nur sich selbst.
»Mrs. Raine«, sagte Breslow. Sie klang respektvoll, rücksichtsvoll, aber auch ein bisschen herablassend. »Falls Sie irgendeine Vermutung haben, was sich hier abgespielt hat, wäre dies der Moment, es uns mitzuteilen.«
»Mein Schwager hat ihm Geld geliehen«, sagte ich. »Viel Geld, das er nicht hat.«
Detective Crowe nickte. »Wussten Sie davon? Vor seinem Verschwinden, meine ich.«
Verschwinden : ohne Vorwarnung oder Erklärung abhandenkommen, unsichtbar werden, nicht mehr existieren. Ein gebräuchliches Wort, man benutzt es in allen möglichen Zusammenhängen. Meine Sonnenbrille ist verschwunden . Der Begriff impliziert die Hoffnung auf ein plötzliches Wiederauftauchen. Aber so, wie Detective Crowe es aussprach, klang es endgültig, wie ein Urteilsspruch.
»Erik hat es mir heute erst erzählt. Meine Schwester weiß nichts davon.« Ich redete eigentlich nicht mit den Polizisten, ich
Weitere Kostenlose Bücher