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Hueter der Daemmerung

Hueter der Daemmerung

Titel: Hueter der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L. A. Weatherly
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entlang.
    Ich passte auf, wohin ich trat, denn ich konnte kaum etwas sehen – nur ein paar Straßenlaternen glommen in der Ferne. In einem Flecken Unkraut in der Nähe raschelte es. Eine Katze, vielleicht. Parallel zu unserem Weg verlief ein hoher Maschendrahtzaun, über den sich ganz oben funkelnde Stacheldrahtspiralen ringelten.
    Seb ging zu einer schummerigen Ecke, wo der Stacheldraht auf einer Strecke von einem halben Meter flachgedrückt war. »Kommst du da rüber?«, fragte er.
    Ich beäugte den Zaun. »Besser, du gehst zuerst«, sagte ich. »Dann kann ich auf dir landen, wenn ich falle.« Es war nur zur Hälfte als Witz gemeint, hohe Absätze waren für so etwas nicht gemacht.
    Seb nickte und griff nach dem Zaun. Er rasselte, als er hinaufkletterte und sich hinüberschwang. Er ließ sich das restliche Stück hinunterfallen und landete geschickt auf dem rissigen Betonboden. Ich zog den Aktenordner unter meiner Jacke hervor und schob ihn unter dem Zaun durch. Dann folgte ich Seb, indem ich meine Füße in den Sandalen umständlich in die rautenförmigen Löcher zwängte. Als ich mich über den Zaun schob, war ich mir peinlich bewusst, dass mein kurzer Rock ziemlich viel Bein sehen ließ. Endlich berührten meine Füße wieder den Boden. Seb war kaum zu sehen – lediglich sein weißes Hemd und seine geschwungenen Wangenknochen reflektierten das matte Licht. »Hier drüben ist es«, sagte er. Er führte mich zur Rückseite des Lagerhauses, wo ich gerade noch einen Berg Gerümpel erkennen konnte, das an der Wellblechwand lag: ein altes Sofa, ein paar zerbrochene Bürostühle, Sperrholzstücke.
    Er warf mir einen Blick zu. »Es tut mir leid, aber wir müssen kriechen. Ein Stück von der Verkleidung ist locker, da können wir uns durchzwängen.«
    Ich dachte an des Geraschel im Unkraut, nickte aber. »Okay. Wie um alles in der Welt bist du denn überhaupt auf diesen Platz gestoßen?«
    Seb hatte sich bereits auf alle viere niedergelassen und zwängte sich langsam hinter das Sofa. Es stand in einem Winkel zum Lagerhaus und bildete eine Art Eingang. »Einfach herumgeschnüffelt, nachdem ich aus dem Waisenhaus abgehauen bin«, erwiderte er mit gedämpfter Stimme. »Ich hatte einen ganzen Haufen Verstecke in der ganzen Stadt. Inzwischen sind die meisten Gebäude allerdings abgerissen worden.«
    Ein metallisches Quietschen, dann eine lange Pause.
    »Seb?«, rief ich und drückte den Ordner an meine Brust.
    Das Geräusch eines angerissenen Streichholzes. »Ja, alles in Ordnung!«, rief er zurück. »Komm.«
    Ich knöpfte den Ordner wieder in meine Jacke ein, dann kniete ich mich hin und begann zu krabbeln. Das alte Samtsofa roch nach Schimmel, Kiesstücke bohrten sich in meine Handflächen und in meine Knie. Vor mir drang ein einladender Lichtschein durch einen schmalen Spalt in der Wand des Lagerhauses, wo ein Stück Wellblech nicht ganz glatt anlag.
    Als ich darauf zukroch, wurde das Paneel angehoben – Seb hielt es für mich auf. Ich quetschte mich neben seinem Arm hindurch. Als ich drin war, stellte ich mich wieder hin, klopfte mir den Staub aus den Sachen und blickte mich staunend um. Das Licht stammte von einer kleinen Ansammlung brennender Kerzen, die direkt aus dem Zementboden zu wachsen schienen. Daneben lagen ein Schlafsack und ein Stapel zerlesener Kindertaschenbücher. Ich nahm das oberste in die Hand, überrascht, dass ich den Einband erkannte – Die unglaubliche Reise. In der vierten Klasse hatte unsere Lehrerin es uns vorgelesen. Ich legte es sorgsam wieder zurück und richtete es so aus, dass es wieder akkurat mit den anderen abschloss.
    Seb stand da. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und sah verlegen aus. »Als Junge war ich oft hier«, bemerkte er achselzuckend. »Die Bücher habe ich alle gestohlen«, fügte er hinzu.
    Ich räusperte mich. »Ich glaube, fürs Bücherstehlen gibt es Strafnachlass. Nach allem, was ich gehört habe, ist dir das vollste Verständnis sämtlicher Büchernarren sicher.« Es kam mir so vor, als betrieben wir Wassertreten: Wir strampelten uns ab, um nicht unterzugehen und vermieden tunlichst Themen, die uns in die Tiefe reißen könnten. Ich zog den Aktenordner heraus und legte ihn auf den Schlafsack. »Was ist das hier eigentlich?« Ich schaute in die Schatten hinter dem Kerzenlicht. »Ist das Gebäude verlassen?«
    »Nein, es gehört jemandem.« Seb bückte sich und schnappte sich eine Kerze vom Fußboden. Sie brach ab wie ein kleiner Baum, dessen wächserne Wurzeln

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